Der Käfer

Hör zu, es ist kein Tier so klein,
dass nicht von dir ein Bruder könnte sein.

(François Villon)


Fade! Das Gartenfest plätscherte fade vor sich hin, garniert mit faden Genüssen der kulinarischen Art, ebenso fader Unterhaltungsmusik, elendig faden Erzählungen und abgeschmackten Scherzeinlagen, und so ging es dahin, bis zu jenem Augenblick, in dem eine unscheinbar winzige Kreatur ganz beiläufig zu Brei getreten wurde. So beiläufig, dass niemand von diesem grausamen Vorfall zu unseren Füßen Notiz nahm.

Längst schon hatte ich mich vor dem unangenehmen Trubel in mein Innerstes verkrochen, reagierte auf jede Aufmunterung zur Geselligkeit mit einem aufgesetzten und wohl ziemlich hölzernen Grinsen, allenfalls einmal mit einem gefälligen Lacher, wusste kaum noch, was um mich herging, war vereinsamt inmitten einer Horde von Zeitverschwendern, als deren vorgeführtes Opfer ich mich fühlte. Es knipste und blitzte in einem fort. Und so stand es zu befürchten, dass in der kommenden Zeit noch mehr oder minder peinliche Kicherfotos von diesem unsäglichen Gartenfest die Runde machen würden. Selbst der traurige Anblick, den meine von Langeweile gequälte Person doch ganz offenkundig bieten musste, schien den eifrigen Konservatoren nichtiger Momente allemal eine Ablichtung wert. Man würde mich noch Tage danach mit den Folgeprodukten dieser Rührigkeiten zu beglücken wünschen. Und ich würde das in Celluloid geronnene Gedenken an mehr nervende denn genüssliche Inszenierungen dankbar entgegennehmen. Alles höflich erduldend, weil zu ängstlich und zu schwach um einen ernsthaften Widerspruch auszuformulieren. Oder einfach nur, weil zu bequem?

Irgendwann hatte sich die ganze Party-Gesellschaft auf einer Art von Veranda eingefunden, einschließlich meiner  dramaturgisch betrachtet: nebensächlichen - Person, die verstohlen nach dem Zeitstand ihrer Armbanduhr schielte und ansonsten nichts tat. Auf der Veranda verweilend, unterhielt man sich sodann genau genommen über nichts, was als ein stetes Tönen aufgereizter Sprachgeräusche zu vernehmen war, ein auf- und abschwellendes Stimmengewirr inmitten einer im Grunde einschläfernden Atmosphäre, die meinen Blick zu Boden knicken ließ, wo hurtig ein schwarzer Käfer krabbelte, geschäftig in die gewichtigen Bedeutungen seines Lebens verstrickt, ein eiliger kleiner Kerl, der keinen Augenblick zu verschenken hatte. Wie besessen bewegte er seine kleinen Beinchen, wohl ahnend, wie gering sein schmächtiges Dasein im Kreise massigerer Kreaturen geschätzt sein könnte.

Ein gnadenloses Augenpaar fixierte auch schon das kleine Geschöpf, das nun nur noch um sein Leben rannte, zwei, drei flinke Schritte, ein aufstampfender Fuß, leises Knacken, kein Schrei, ein stummer Tod. Ein schwarzer Abklatsch auf hellem Untergrund, ein noch zitterndes Beinchen, platt gequetschtes Gedärm und quellende Leibessäfte, das war der sterbliche Rest. Für nichts gestorben und in seinem Sterben kaum einmal noch wahrgenommen.

Ich war - wie einige der Umstehenden - Zeuge der mutwilligen Tötung des Käfers geworden. Eine Bluttat, die mich aufreizte, und aus tiefster Empfindung quoll jetzt zusehends ein ungeheuerliches Wutgefühl in mir hoch, zerriss die Trübheit selbstgenügsamer Agonie und verspannte das Muskelgewebe zu einer ineinander verwobenen Schicht aus Panzerplatten. So stand ich nun da, mehr Stahl denn Fleisch, ein Kampfgetier, bereit für alles Unrecht dieser Welt Sühne einzufordern. Mein Blick verfing sich in der Erscheinung der Täterin, welche ein liebreizendes Fräulein war, dessen Konturen sich in der Wahrnehmungskraft meines wieder gewonnenen Konzentrationsvermögens schärften, das also, da es sich von meinem übelwollenden Blick angestochen fühlte, unangenehm berührt zurückblinzelte, ein verwundertes Fragen zugleich, weil es ihm nicht möglich schien, die plötzlich aufkeimende Missgunst gegen seine Person irgendwie zu begreifen. Eines läppischen Käfers wegen sollte es Unstimmigkeiten geben? Unartige, ja geradezu unflätige Worte lagen mir bereits auf der Zunge, ein bestialisches Temperament wollte sich an dem jungen Weib vergreifen, ein heißer Sporn glühte in mir, der nach Blutrache für das zertretene Insekt verlangte, dessen flüchtiges Leben - ich spürte es zuinnerst - mehr vor Gott zählte, als jene verkommene Maid, die in ihrer ganzen Empfindungslosigkeit nicht einmal um ihre Untat zu wissen schien. Wahrlich, die Furie kochte in mir hoch, aber schlussendlich enthielt ich mich doch des Ausbruchs tobenden Zorns und wahrte stattdessen des edeln Gemütes Contenance.

Mein Anblick muss in diesen Momenten innerer Erzürnung Furcht erregend gewesen sein, denn schließlich schreckte sie vor mir zurück, so als ob der von ihr zertretene Käfer in der Leibhaftigkeit meiner Trauer seine ehemalige Gestalt wieder erhalten hätte und nun zur gebührlichen Antwort auf ihr Verhalten ansetzte. Doch diesmal nicht klein und wehrlos, sondern von ungeheuerlicher Monstrosität, mit dem Verstand eines grausamen Menschenwesens begütert, das nicht nur aus Bedürftigkeit, oder der sadistischen Lustempfindung wegen, tötet, sondern aus bloßer Respektlosigkeit vor den Wundern dieser Erde. Ihre Panik währte freilich nicht lange. Gerade einen Augenschlag lang saß ihr ein kreatürliches Angstgefühl in den Gliedern. Dann hatte sie sich auch schon wieder gefasst und war in die Nichtigkeit ihrer belanglosen Alltagsexistenz zurückgesunken. Zeitgleich verschwammen mir ihre Umrisse zu einem schemenhaften Gebilde, gerade noch hörte ich sie quaken, unterbrochen von einem anderweitigen Gackern, dann ein hackendes Lachen, hässlich und roh. Der Alltag kehrte zurück und schob sich besänftigend zwischen ihre Bluttat und mein Bedürfnis nach Blutrache.

Mein Blick wanderte nun wieder abwärts, wo mir der zerbrochene Schädel des Kleinen zärtlich zulächelte, eingebettet in den grausigen Rahmen ausgetretener Gedärme. Ein für immer erstarrtes Lächeln, das langsam skelettierte und schon der Verwesung anheim fiel. In stiller Trauer zelebrierte ich meinen Schmerz, von niemandem bemerkt, weil schamhaft verborgen. So heimlich und unbeachtet wie der Tod des kleinen Käfers, dessen schändliche Tötung offen anzuklagen oder auch nur zu beklagen nichts als kopfschüttelndes Unverständnis erregt hätte. Denn das Leben eines Käfers zählt nicht, und sein mutwillig herbeigeführter Tod mag nicht einmal ein laues Gartenfest verunstimmen.

(Harald Schulz; 06/2003)