ARTHUROS ADIEU
© Alexander Pöll
Diese Geschichte erzählt von mir, einem jungen Mann. Mein Leben kann sich so überall abspielen. Irgendwo und nirgendwo. Ich lebe scheinbar ohne Mutter und ohne jegliche Sorgen, die alle Welt kennt. Und bin als liebestoller Wüstling auf der Hut vor jeder moralischen Anstrengung! Von dieser Sorte hat es schon einige bedauernswerte junge Menschen gegeben. Doch ich, ich fühle mich so angeödet und verstört, daß mir der Tod wie ein schrecklich vorgegebener Ort die Sinne trübt. Wenngleich ich so blut-voll strotze! Wenngelich ich so blut-voll strotze, ist mir mein ganzes Leben, meine ganze Kraft in merkwürdig trübsinnige Irrwege verrutscht.
Nun Folgendes, ist das mein Traum? Ist das meine Liebe? Die mich im Bett oder im Park überkommt? Der Verlauf und der Ausgang der Liebe bieten Anlaß zu behutsamen Betrachtungen. Betrachtungen über einen möglichen Traum.
Aber wer träumt? Derjenige der schläft? Und schläft derjenige, der träumt? Sind die Träume und Sehnsüchte nicht jene Dinge, die mich fortziehen? Die mich in ihren Bann ziehen wie ein vertracktes Leiden, das nicht mehr von mir ablassen will? Welcher Traum deckt mich bloß zu, wenn haltlose Gedanken meinen Kopf zum Zerspringen bringen? Wenn Hirngespinste mich verwünschen? Wenn kühle Leidenschaften wie Schauer durch meine Haare fahren? Wenn alles verloren scheint und sich nichts mehr hält am leeren Balkon? Wenn mich nichts und niemand mehr hält. Am leeren Balkon, wo zur Mondaufgangsstunde der Tee zieht.
Dieses vertrackte Leiden übt eine beunruhigende Macht aus. Denn meine müßige Jugend ist von allem besessen. Ich möchte aufbrechen und ein Fremdling sein. Und ich will denjenigen suchen, der ihm, diesem Fremdling, trauert. Doch keiner ist. Und vor lauter Feinsinn werde ich mein Leben verlieren. Ach, wo bleibt da nur die Zeit, wo es mein Herz entzündet. Mit fliegenden Lippen und Rosen in der Fresse.
Es bleibt nunmehr sehr zu wünschen, daß meine Seele gerade jetzt echte Tröstungen erfährt. Daß man mir trauert. Mir und meiner Seele, die sich mitten unter den Menschen verirrt hat und die den Tod wünscht, wie es scheint. Die als Fremdling den Tod zu suchen glaubt.
Ich darf wohl zwanzig Jahre zählen, auch wenn mich meine wirren Haare und mein weiten Hosen jugendlicher erscheinen lassen. Jugendlich und leichtsinnig, weil der Leichtsinn der Jugend auf den Buckel gedrückt wird, und man ihr die Leichtsinnigkeit sozusagen zuschreibt und zubilligt, da die jungen Leute doch schon immer so ungestüm in die Welt hineingelaufen sind. Gerade so, als wären sie Fremdlinge. Als wären sie weltfremde Neulinge, deren Aufgabe darin bestünde, sich die Hörner und wer weiß noch was abzustoßen.
Ich bin in die Stadt gegangen. In die große. Dabei hätte mich meine Mutter viel lieber an ihrer Seite gesehen. An ihrem Busen gewogen.
Doch halt! Still! Höre ich, wie man an meine Türe klopft? Wie der Schmerz und die Traurigkeit mit ihren kränkelnden Fingern pochen? Und pochen. Und ihre Finger zu Fäusten ballen. Und schlagen. Höre ich, wie die grau geglaubten Gestalten an der Klinke rütteln? Rufen sie gräßlich und grausam? Schreien sie nach mir? Mit schrillen Stimmen? Höre ich sie? Die Finger, die Fäuste und die Gestalten. Nein. Ich höre nicht.
Ich kann sie nicht hören. Die Musik ist zu bunt. Der Abend zu laut. Die Leute zu unbefangen. Ja, unbefangen in ihrem stoffernen Gefängnis. Und ich… ich laufe, ich laufe schnell, so schnell ich nur kann! So schnell mich meine Füße tragen! Ich laufe fort aus dem Gefängnis und mach mich frei! Ganz frei.
Ich lege ab, lege meine Kleider ab. Ich will bei mir sein, mich spüren und wieder loslassen. Ich lege meine Kleider ab. Nackt wurde ich geboren. Und nackt soll ich sterben. Bald.
Mir wird kalt. Mir ist kalt. Aber wo finde ich nur all meine Kleider wieder, um mich zu bedecken? Brauche ich denn all die Kleider? Reicht mir nicht ein einziger Pullover, der sich um mich legt? Wo, ja wo, sind nur all die Menschen, die an meine Türe geklopft haben? Wo vermag ich ihre Stimmen zu hören? Und wo ist die Musik geblieben? Soll ich nackt tanzen, wenn ich sterbe? Wer singt mir dann ein Lied? Wer schenkt mir eine Melodie? Wer ruft mir bei meinem Tod zu? Die Einsamkeit, die mich überrollt? Schlage ich ihr nicht die Türe vor der Nase zu? Wenn ich so bloß bin? Wenn ich nackt bin.
Nennt mich Thuro. Oder Thurl. Nicht Arthur. Nicht Arthuro. Thuro reicht vollkommen aus. Staucht mir meinen Namen ruhig ein wenig zusammen, denn ihr braucht nicht so zu tun, als würdet ihr mich für eine ganze Persönlichkeit halten. Ich bin doch noch so jung, auch wenn ich blut-voll strotze. Ich scheine doch nicht mehr als ein Thuro zu sein. Ein Thuro, der sich von der Welt angeödet fühlt.
Ich bin ein gebranntes Kind. Und scheue trotzdem kein Feuer. Ich bin jung und versoffen. Ich kippe Tequilas und philosophiere über das Leben, obwohl ich keine Ahnung davon habe. Ich maße mir an, das Leben zu verstehen, weil man mir unaufhörlich Weisheiten entgegenspuckt. Vor die Füße, mitten auf den Boden.
Mein Kopf ist voll von Schwachsinn, der mich anödet, wenn der Morgen graut und mich das Grausen packt. Und meine Begriffsstutzigkeit macht mich so lahm, daß ich Tequila trinken muß, um mich freizudenken. Um mich freizuschwimmen im Strudelteig, den man Leben nennt und im Ofen goldbraun bäckt.
Die Abende sind lang und der Tequila teuer und scharf. Daß meine Kehle brennt. Die Kehle, nicht das Herz. Meine Zunge ist trocken, wenn sie über fremde Körper streicht. Die Körper schmecken langweilig. Nicht so erhebend wie Tequila. Sie sind mit weißer, schuppiger Haut umzogen. Die Farbe ist längst abgeblättert. Der Lack muß müde gewesen sein wie ein mürber Lackaffe.
Ich glaube noch immer, die Weisheit mit dem Löffelstiel gefressen zu haben, nur weil ich an allen Löffeln schlecke und bereitwillig schlucke, was mir in den Mund gesteckt wird.
Mit Tequila im Blut tanze ich durch die Dunkelheit, falle nieder und stehe wieder auf. Ich bin nicht unterzukriegen und lasse mich nicht über den Tisch ziehen oder unter den Tisch saufen. Sondern schreie in die Nacht hinein, daß mich endlich mehr erwärmt als ein Tequila und ein Lackaffe.
Oft gehe ich hinaus. Hinaus in die weite Welt, die sich vor meiner Haustüre einladend erstreckt. Ich öffne die Türe einen Spalt, und mit den Augen halte ich Ausschau. Damit ich mir einen Ausblick zu schaffen vermag. Einen Ausblick auf eine weite Welt. Einen Weitblick auf eine ausladende Welt. Einen weltlichen Blick auf eine ausgelagerte Weite. Denn je weiter man blickt, desto tiefer darf man fallen. Auf die einladende Blickweite.
Ich spähe solange, bis man mich entdeckt. Bis ich hervorsteche, um zerstochen zu werden. Bis man mir sagt, daß das Leben zu kurz ist, um es nicht in vollen Zügen und mit vollen Gläsern auszukosten. Bis man mir sagt, meine Hände auszustrecken. Bis man mir sagt, nicht nach den Sternen zu greifen, weil das Gute doch so nah ist! Bis man mir sagt, daß ein wenig Spaß und Abwechslung noch keinem geschadet hätten.
Und man schenkt mir ein paar Zärtlichkeiten und all das, was in meiner Hose nur darauf wartet, herauszuspringen. In die Welt. Die große und weite. Ja, ich öffne mich. Ich öffne meine Hose und lasse mir den Reißverschluß vom Leib ziehen. Mit den bloßen Zähnen. Ich wünsche mir, er würde mich fortführen. Mit seiner Zunge. Mit seiner einfühlsamen Zunge, die sich in mich reinfühlt. Ich spüre, wie er mich berührt? Ganz vorsichtig und sanft. Ja, ich bemerke ihn. An mir. An meiner Hose.
Weil ich mich jetzt so heiß fühle, lutsche und lecke ich auch an ihm. Ich hänge mich sozusagen an ihn dran mit meinem Mund. Und plötzlich werden unsere beiden Körper zu einem. Und ich berühre ihn. Körperlich versteht sich. Nur körperlich. Mit meinen Händen und meiner Zunge. Mit meinem Gesicht, das ich in seinem Schoß vergräbt. Es gefällt ihm, glaube ich. Lacht er? Nein. Lächelt er? Nein. Aber seine Augen hat er geschlossen. Und ich spüre, wie er leise zittert. Wie er ein wenig bebt. Mit seinen Lenden. Wie er mir ein wenig entgegenfährt. Mitten ins Gesicht. Mitten in mich hinein. Ohne Worte.
Er darf mir ruhig meinen Atem nehmen. Er darf seine Hände in meine Haare vergraben. Und mich reißen. Vor und zurück. Wie es ihm gefällt. Schlag nur auf meine Schädeldecke! Nur zu! Keine Angst. Ich lasse dir freie Hand. Keine Angst, keine Sorge. Angst machen wir uns nur selbst. Und Sorgen machen sich nur Verlierer.
Schon preßt er seinen Körper an mich. Und stöhnt leise als wolle er flüstern. Ich gewähre ihm bereitwillig Einzug. Heute, ja heute, nur heute will ich mich ein bißchen geliebt fühlen. Von ihm und seiner Zunge und all dem Speichel, der ihm aus den Mundwinkeln läuft, während ich innerlich koche und äußerlich keuche. Von ihm und seiner ganzen Männlichkeit, bis ich aus meinen Ufern trete. Bis ich auslaufe. In ihm und aus ihm. Bis all meinen Gefühlen hervorpurzeln. Ja, hinaus mit ihnen, daß sie vor die Stadt laufen. Hinaus mit allem, das mich hindert. Das mich hält. Ich will mich verraten. Alles verraten, das ich weiß. Alles verraten, daß ich besser wissen sollte. Und wenn ich nichts mehr weiß, dann verrate ich mich selbst. In seinen Mund.
Der Druck, der auf mir lastet, übermannt mich. Mit tausenden Händen, die eisern nach mir fassen. Die gekonnt nach mir schlagen. Mit ihren bloßen Handflächen. Mitten in mein Gesicht. Ich kann mich nicht mehr halten. Aller Halt scheint verloren. Und der Druck… Er fällt ab. Er fällt von mir ab, und ich schleudere ihn in die Welt, die ihn mir auferlegt hat. Ich schlage ihm sozusagen in den Mund. Mit aller Kraft, die ich habe. Ich lasse meinen Druck in ihn fahren, daß er ihn mir abnimmt. Und vorsichtig verschluckt. Keiner soll ihn sehen! Niemand soll davon wissen.
Wenn ich dann nach Hause laufe, zu der Türe, die mir Ausgang gewährt, dann hoffe ich, unentdeckt zu bleiben. Vor dem schwarzen Mann, den Spielverderbern und Angstmachern.
Nein, ich fürchte mich nicht vor dem schwarzen Mann. Aber wenn er kommt… Ja, wenn er kommt, mir der kalte Wind in den Nacken fährt und mich von hinten ein wenig würgt, dann wünsche ich mir, meine Mutter würde mir einen Pullover stricken. Einen dicken. Warm soll er sein. Mit Rollkragen. Beschützen soll er mich. Vor dem Wind, dem schwarzen Mann, den Angstmachern und Spielverderbern.
Mutter? Hörst du mich? Deine Mutterliebe ist doch so groß, daß du sie gestrost in einen Pullover stricken kannst. Mutter? Du hörst meine Rufe nicht. Du hast meine Rufe nie vernommen. Nach dem Strudel, den du mir backen sollst. Nach dem Ofen, den du mir anheizen sollst. Nach einem einzigen Pullover, den du mir stricken sollst. Wieso hast du mich im Stich gelassen? Willst du nicht jetzt wieder alles gut machen? Indem du mich stichst? Mit einer Nadel. Mit einer Nadel, die du tausendmal in den Pullover fahren läßt, der mich wärmen soll. Mutter?
Heutzutage werden Pullover nur mehr in Fabriken hergestellt. Vollautomatisch und synthetisch. Da sitzen die Näherinnen und kontrollieren die Maschinen, die für sie stricken. Aber ich, ich sehne mich nach einem selbstgestrickten Pullover, um mich verstecken zu können. Daß mir nicht so kalt um´s Herz ist, wenn ich mich vor den Angstmachern und Spielverderbern mit ihren grauen Haaren, grauenhaften Brillen und grauslichen Gesichtern verberge.
Ach, diese Angstmacher. Diese Spielverderber! Ich glaube, die Angstmacher sitzen zu Hause in ihren Zimmern und häkeln am warmen, goldbraunen Backsteinofen einen Strick. Einen Strick, an dem sich die jungen Menschen aufhängen dürfen. Die Angstmacher treffen sich mit den Spielverderbern und nähen am Leichentuch. Am Leichentuch, das sich die jungen Leute überwerfen dürfen. Die Angstmacher und die Spielverderber schauen den Jungen zu, während sie ihr Leben stricken. Und mischen sich ein. Mit Stecknadeln und Luftmaschen.
Doch ich, ich habe keine Angst! Ich fürchte mich nicht vor dem schwarzen Mann! Ich bin doch nicht einer von diesen Verlierern! Die Verlierer sitzen auf einer anderen Seite. In einem anderen Zug. Nein, ich sitze in keinem verlassenen Zug. In keinem verlorenen Boot. Ich beiße in keinen vergifteten Apfel! Ich lasse keine Welle in meine Nußschale schwappen. Ich schwimme in keinen Strudel, der mich nach unten zieht. Und ich kotze nicht vom blauen Wein, den ich unaufhörlich predige. Weil ich die Unendlichkeit suche.
Ich suche die Unendlichkeit. Ich suche das Meer, das mit der Sonne kreist und mir ein grenzenloses Herz häkelt. Den Ort, wo ich trotz einsamer Nächte nicht verbrenne. Wo keine Stricke reißen, an denen man sich aufhängt. Den Ort, wo ich in heilloser Qual meinen Traum erkenne und mir die Zukunft zum Abenteuer mache. Ja, diesen Ort suche ich. Und verpasse keinen Zug. Verpasse kein Spiel.
Kein Spiel. Weil alle spielen. Manche mit Joker. Einige mit As im Ärmel. Viele mit gezinkten Karten. Kaum haben sie ein Spiel verloren, mischen sie die Karten neu. Neues Blatt, neues Glück.
Ja, alle spielen. Und alle laufen. Sie laufen so schnell, daß sie an ihrem Ziel vorbeilaufen. Keiner sieht zurück. Keiner bleibt stehen. Keiner holt tief Luft, weil das Herz an der Seite so sticht. Ich sehe sie alle in ihrem Hetzen. Manchmal hetze ich mit. Hin und wieder hetze ich ihnen nach. Hetze mir nach, weil ich so schnell bin und mir nicht getraue, stehen zu bleiben und überholt zu werden.
Immer wieder denke ich an die Liebe. Doch was ist Liebe? Ist Liebe, seinen Bedürfnissen nachzugehen? Seine Bedürfnisse auszuleben? Nach Herzenslust. Ist Liebe, daß mir meine Mutter einen Pullover strickt? Einen Pullover für den Winter. Ist Liebe, sein Herz zu verlieren und wiederzufinden. Wenn man sich in jemanden verliert und in ihm wiederfindet? Ist Liebe ein Gefühl, das man gar nicht erklären kann? Das man vielmehr leben soll, in jedem Moment, der einem geschenkt wird?
Weil Liebe selbst keinen Grund hat, aber der Grund für alles ist.
Ist Liebe ein Schlag scharlachroter Tauben, die um meinen Elfenbeinturm toben?
Ich glaube, daß wir die Liebe längst verloren haben. Nicht den Glauben daran, aber sie selbst. Sie ist uns durch die Finger gelitten, als wir sie uns vorgestellt haben. Als wir sie uns gewünscht und uns nach ihr gesehnt haben. Als wir sie beschrieben und verglichen haben. Als wir sie uns zurechtgeschnitten haben. Da haben wir die Liebe verloren. Sie wird nicht wiederkehren, indem wir uns einreden, nicht mehr auf sie zu warten. Sie wird nicht wiederkehren, wenn wir auf sie warten. Sie wird nicht wiederkehren. Und alles, was wir nun Liebe nennen, ist nicht Liebe, sondern nur der Wunsch danach. Den Wunsch wollen wir uns erfüllen. Mit allen Mitteln. Mit allem, das uns zur Verfügung steht. Doch haben wir uns den Wunsch erfüllt, kommen wir darauf, daß es nur der Wunsch war. Nur der Wunsch, nicht die Liebe. Weil die Liebe längst verloren ist. Und wir suchen nur unsere Wünsche und nicht die Liebe. Falsche Suche, falsches Spiel. Ja, wir spielen. Wir spielen mit dem, was wir für die Liebe halten. Und verlieren.
Die Liebe ist irgendwo da draußen, sagen wir. Irgendwo. Vielleicht um die Ecke. Vielleicht Stunden entfernt. Vielleicht trennt uns ein ganzes Leben von ihr. Wir werden die Liebe nicht finden. Die Liebe findet auch nicht uns. Weil wir gelernt haben, sie erst zu erkennen, wenn sie wieder fort ist. Um sie dann erneut zu suchen. Und unsere Wünsche zu finden. Ja, wir haben die Liebe längst verloren. Als wir schliefen und von ihr träumten. Als wir wach waren und sie zu erleben glaubten. Als wir dachten, das alles muß Liebe sein. Dabei ist die Liebe nicht laut. Sondern so leise, daß wir sie nicht hören. So unscheinbar, daß wir sie übersehen. Ja, wir suchen das Große und finden dabei nicht das Kleine. Das Unmerkliche. Unsere Wünsche sind viel zu groß für die Liebe. Die Liebe ist klein und unscheinbar. Und darin so groß. Aber wir haben verlernt, das Unmerkliche zu entdecken. Und haben die Liebe längst verloren.
Paul. Ich habe dich fortgeschickt. Ich habe dich fortgeschickt, ehe du mich verlassen konntest. Ich bin gegangen und habe dich verlassen, bevor du mich im Stich gelassen hättest. Bevor ich dich verloren hätte und du mir wie Sand durch die Finger geglitten wärst. Ich bin dir zuvorgekommen. Ich war schneller. Ich war feige.
Ich bin doch viel zu feige. Ich versinke lieber im Selbstmitleid als zu wagen. Ich möchte leben und lebe doch nicht. Ich möchte kämpfen und kämpfe doch nicht. Ich möchte lieben und lieben doch nicht.
Und der Augenblick der Erkenntnis kommt meist zu spät. Wenn alle Chancen verpaßt sind. Meine Chancen habe ich längst verspielt. Die Karten werden nicht mehr gemischt. Kein Full House. Keine Straße. Kein Paar. Mein Leben habe ich verspielt. Das Spiel ist aus.
Und was war mein Leben? Spaß? Abwechslung? Bunte Musik und laute Abende? Mein Leben war doch nur Oberflächlichkeit. Habe ich nicht verpaßt, mein Leben zu leben? Ich habe alle Züge verpaßt, die ich nehmen hätte können. Ich bin am Bahnsteig auf und ab gelaufen. Und habe geglaubt, in jedem Zug zu sitzen. Dabei habe ich nur durch die Fenster in die Abteile gesehen. Und bin hochsprungen. Von der Bahnsteigkante zu den Fenstern. Ich habe von außen gelacht statt im Zug zu weinen. Dann bin ich gefallen. Von der Bahnsteigkante auf die Gleise, damit mich der nächste Zug überrollt und zerquetscht.
Habe ich mich selbst verloren, Paul? Dieses Virus fängt sich wie eine Geißel um mein Herz. Verschließt es. Schnürt es ab. Erdrückt es. Dieses Virus nimmt mir allen Mut und alle Hoffnung. Und es macht mir soviel Angst, daß ich fortlaufen muß. Daß ich weggehen will. Ich kenne mich nicht mehr. Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Was ich bin. Was ich möchte. Wie soll ich dir mein Herz öffnen, wenn ich mich selbst nicht verstehe? Wenn ich mich und mein Herz verloren habe. Ja, was man verloren hat, kann man wiederfinden. Aber wo? In der Unendlichkeit? Muß ich in die Unendlichkeit gehen? Dorthin, wo das Meer mit der Sonne kreist? Wo mir ein grenzenloses Herz gehäkelt wird?
So oft habe ich den Tisch gedeckt. Für meine Mutter. Für meine Freunde. Für Menschen, die ich meine Freunde zu wissen glaubte. Aber für wen soll ich denn heute den Tisch decken, wenn ich mich so einsam und allein fühle. Wozu brauche ich ein Tischtuch? Ein Tuch? Als Leichentuch, um mich aufzuhäkeln? Nein!
Verdammt noch mal: nein! Ich muß allen Dingen mittendrein schlagen! Mit einem Schlag! Ich reiße den Menschen ihre aufgezwungenen Kleider herunter. Was brauchen sie mehr als einen einzigen Pullover? Sollen mich nur die Schneider verdammen! Als scheinbar Verdammter werde ich frei.
Ja, frei! Frei! Mit einem Schlag! Einem Querschlag, weil ich nicht unbeholfen bin wie die Masse. Sondern ihrem Strom mittendrein springe! Ich springe in den Strudel, der mich nach unten ziehen will und rudere unaufhörlich mit meinen Armen, um nicht unterzugehen.
Mit einem Schlag! Mit einem Aufschlag, weil ich aufsässig bin. Leben, du gottverdammtes Leben! Ich falle dir in den Nacken und würge die müden Gurgeln aller Menschen. Mit einem Schlag! Mit einem Unterschlag! Schluß, endlich Schluß! Schluß mit dem farblosen Röcheln. Schluß mit dem eintönigen Luftschnappen! Leben, ich schleife dich an deinen Haaren und fresse dir das Letzte vom Kopf! Ich pisse dir ins Genick und verzichte auf deinen Pseudo-Handschlag!
Weg mit dieser Zwangsjacke! Fort mit dieser Zwangsjacke! Fort mit den Kleidern, die mir auferlegt wurden! Schluß, endlich Schluß! Mit einem Schlag! Mit einem Schlag scharlachroter Tauben, die um meinen Elfenbeinturm toben.
Mir kommt das Kotzen. Ich breche. Ich zerbreche. Ich gehe kaputt. Oder woanders hin. Wo ist nur der einzige Pullover, der sich um mich legt?
In diesem Moment wünsche ich mir, meine Seele könnte meinen Körper verlassen. Über mich fliegen, mich mit ihren Schwingen berühren, mich gleichzeitig auf- und zudecken. Ich wünsche, meine Seele könnte mir Blicke auf gegrünte Wolken gewähren. Sie könnte mir schreiende rote und orange Farben eines Sonneruntergangs in stechenden Schmerzen spüren lassen. Sie könnte mir ein dumpfes Braun in hölzernem Duft vernehmen lassen. Mir einen Zaun präsentieren, dessen Halt ich fühlen darf, vermischt mit der Furcht, das morsche Gehölz, vom untergehenden Sonnenlicht in hellem Orange und blutigem Rot berührt, würde brechen, und ich in den schwarzen von dunkelblauen, traurig harten Strähnen durchzogenen Fjord fallen, von reißenden Wellen umspült und vom brausenden Wasser erstickt werden. Unsägliche Angst bekomme ich. Ich zittere. Ich reiße den Mund und die Augen weit auf. Versuche zu atmen. Glaube verlassen zu sein. Ich lege die Hände entsetzt an den Kopf. Ich denke, den Tod wie ein Kind zu sehen. Und schreie einsam.
Überrollt mich jetzt die Einsamkeit? Überrollt sie mich wie ein fahrender Zug, der meine Wünsche knickt? Ist das Ende der Zeiten behäbig? Wo bleibt der einzige Tag des Geschicks, der mich über meine Ungeschicklichkeit hinforttäuscht? Wo bleibt der einzige Augenblick der Erkenntnis? Wo finde ich nur die Unendlichkeit? Was ist die Unendlichkeit? Ist sie die Liebe? Und das Meer, das mit der Sonne kreist, das Leben? Ist das Leben ein Strudelteig, aus dem man die Liebe bäckt?
Ich höre Rufe. Man ruft mir zu. Ist es meine Mutter? Sagt sie mir, mein Pullover ist fertig? Sagt sie: Dein Pullover ist fertig, mein Junge. Willst du ihn anziehen, mein Junge? Damit du dich nicht so einsam fühlst. Frierst du, mein Junge?
Nackt wurde ich geboren. Und nackt soll ich nun sterben.
Ich zittere. Mein Körper wirft mich nach allen Seiten. Aber woran soll ich mich jetzt klammern, wenn aller Halt verloren scheint. Wenn sich nichts mehr hält und der Wind alle Kerzen gelöscht hat. Wenn mich nichts und niemand hält und mir der Wind kühl unter den pullover fährt? Wo ist das letzte Rettungsseil, das mir entgegengeworfen wird? An dem ich mich getrost aufhängen darf, um nicht ziellos abzustürzen? Wer nimmt mich dann fort? Wer zieht und zerrt mich weg? Was zieht und zerrt mich fort? Fort an den Ort, wo die Sonne mit dem Meer kreist? Und mir ein grenzenloses Herz gehäkelt wird aus unzähligen Luftmaschen, die ich als Träume in die Welt geworfen habe.
Paul? Bist du da? Ruf mir doch zum Abschied zu. Sing mir zum Abschied ein Lied. Schenk mir zum Abschied eine Melodie. Tanze mit mir zum Abschied.
Ich habe Saiten gespannt von Kirchturm zu Kirchturm. Girlanden von Fenster zu Fenster. Und Ketten aus Gold von Stern zu Stern… Doch niemand schenkt mir eine Melodie, niemand singt mir ein Lied, niemand tanzt mit mir.
Ist das Leben die Ruhe? Ein stiller Moment? Der wie ein lichter Sonnenstrahl auf unser Gesicht fällt? Ist das Leben der Freund? Nicht drängend, nicht nachgiebig. Der Freund. Ist das Leben der Geliebte? Nicht quälerisch, nicht gequält. Der Geliebte. Bedeutet Leben, nichts mehr im Himmel und auf Erden verloren zu haben?
Wie kann ich mir in dieser Winternacht begegnen? So lange bin ich getaumelt. Von Kap zu Kap. Vom wimmelnden Pol zum Schloß. Von der Stadt zum Meeresstrand. Ich bin getaumelt. Von Blick zu Blick. Matt und ohne Gefühl. Wie kann ich mir da jetzt begegnen? Mich spüren und wieder loslassen? Wie kann ich meine Gesichter, mein Atmen, meinen Körper wahr machen? Wie kann ich mein Leben wahr machen? Wo kann ich mein Leben wahr machen?
Ich weine. Befreit mich jetzt mein Weinen? Befreit es mich von all den Abnormitäten, die mich überrollen? Von den grausamen Gesten, die über mich hereinbrechen? Ich weine alleine. Zu meinem Abschied. Die Einsamkeit ist der Überdruß der Liebe, glaube ich.
Und sage: Adieu.