In jedem Jahr zieht es mich an Fronleichnam zum Schloss auf dem Berg in Z.

Es gehört einem sehr honorigen Fürsten, der den riesigen Schlosspark mit den herrlichen Blumen für Besucher geöffnet hat. Aus aller Herren Länder kommen Menschen, um dieses Kleinod zu besuchen. Abends, wenn das Volk sich verlaufen hat, gehört dieses Paradies mir. Beim Einbruch der Dämmerung komme ich hier herauf. Still ist es und einzigartig schön. Ein riesiges Hirschgehege grenzt bergabwärts an den Park. Eine Mauer aus grauen Steinen schließt es gegen den Park ab. Vor einigen Jahren war ich zum ersten Mal hier. Damals stand ein Herr in den Fünfzigern, so in meinem Alter an der Mauer und schaute begeistert hinab zu den Hirschen. Als hätte er auf mich gewartet, begann er leise zu reden."Psssttt," machte er und bedeutete mir mit diesem hart hingeworfenen Zischlaut, dass ich meinen Mund halten solle. Eigentlich gedachte ich nicht zu reden, doch der Herr hatte es anders beschlossen. Gestikulierend zeigte er nach unten: "Da schauen sie, der weiße Hirsch, das Wunder. Er hat auch eine weiße Hindin." Der Herr schaute mich auffordernd an. Artig beugte ich mich über die Mauer und sagte "Oh." Der Herr sprach weiter: "Das ist ein Wunder und das hat unser Fürst vollbracht. Er ist ein wahrer Gönner der Menschen." Wir schauten noch eine Zeit lang auf die Hirsche, mir gefielen die braunen besser, dann wandte ich mich zum gehen. Der Herr ging mit, ich konnte ihn nicht abschütteln. Als wir das Schlosstor hinter uns gelassen hatten, steuerte er auf die Kirche zu. "Kommen sie, schauen sie," sagt er. Neugierig folgte ich ihm in die Kirche. Ein fahles Licht beleuchtete den vorderen Bereich. Ich setzte mich in eine Bank. Vorn war ein schöner Altar aus dem Spätbarock. Doch das Altarbild erweckte nicht meine Aufmerksamkeit, sondern der Schmuck um den Altar. Ein Meer von Blumen. Blaue Hortensien, dunkelrote, fast schwarze Tulpen, Goldregen und Besenginster, liebliche Akelei in allen Farben, Maiglöckchen, Pfingstrosen und Flieder, ein Blütentraum. Das übliche Tannengrün wurde durch Birkenzweige ersetzt. Das Blumenbild wirkte dadurch locker und weich. Ein wahrhaft würdiger Fronleichnams-Schmuck.

Der Herr bekreuzigte sich. Er machte viele Kniebeugen und beträufelte sich und mich mit Weihwasser. "Der spinnt," dachte ich spontan. Dann sprach er einige lateinische Worte. "Ein Wahnsinniger," dachte ich und ließ die Prozedur widerwillig über mich ergehen. Wieder begann er in seinem lauten Flüsterton zu sprechen: "Ich bin gern hier Pfarrverweser, die Pfarrei hier ist zu klein für einen eigenen Pastor. Ich betreue sie neben meiner großen Gemeinde im Tal, sagte er. Kommen sie morgen zur Prozession, wir haben vier Stationen zu machen, sie liegen weit auseinander." Verrückt, der glaubt, ich kenne ihn", dachte ich und ließ ihn in seinem Glauben. Am nächsten Tag war ich pünktlich zur Prozession beim Schloss. Sie begann in dieser wunderschönen Kirche und ging den ganzen Berg hinunter hin zum nächsten Altar in einem kleinen Dorf. Dort war sie noch nicht zu Ende, ich wurde müde und Lust, länger mitzugehen, hatte ich nicht. Per Anhalter fuhr ich zurück zum Schloss. "So ein verrückter Kerl, der mutet seinen Schäfchen allerhand zu", dachte ich. Viele Jahre kam ich zur Prozession an Fronleichnam aufs Schloss.
Im vorletzten Jahr zog es mich zur Fronleichnamszeit wieder auf das Schloss und traf den Pfarrverweser am Wildpark. Er lud mich, wie eine alte Bekannte, zur Prozession ein. Im letzten Jahr konnte ich am Tag vor Fronleichnam nicht kommen, auch zur Prozession kam ich zu spät. Ich wanderte den Berg hinunter, um das Schloss herum, ging hinein in die wunderschön geschmückte Kirche. Sie war, wie immer, eine Sinfonie aus Blumen. Die Prozession war längst zu Ende, als ich zurück fuhr. Etwa zwei Kilometer war ich gefahren, da tauchte ein seltsamer Zug vor mir auf. Schwarz gekleidete Menschen unter einem Baldachin. Kein Pfarrer dabei. "Was wollen die, sieht aus wie ein Geisterzug?" Unaufhaltsam strebte dieser Zug dem Schloss entgegen. Ich fuhr weiter. Etwa nach einem Kilometer tauchte eine hinkende Gestalt vor mir auf, angetan mit Priestergewand. Es war der Pfarrverweser. Er hatte offensichtlich Schmerzen in seinem linken Fuß, denn er hinkte. Ich wendete mein Auto in einem Waldweg. Langsam fuhr ich an den Mann heran, kurbelte die Scheibe herunter, grüßte freundlich und fragte ob ich den Herrn Pfarrer zur Kirche bringen könne. Er erkannte mich, anstatt einzusteigen, zischte er mich an: "Hauen Sie ab, jetzt brauche ich Sie nicht mehr, den kurzen Weg schaffe ich noch. Sie waren nicht bei der Prozession." "Beleidigter Affe", dachte ich, ließ ihn stehen und fuhr davon.

In diesem Jahr kam ich am Tag vor Fronleichnam an die übliche Stelle, kein Pfarrer. "Auch Recht", dachte ich und genoss die paradiesische Ruhe. Die Hirsche ästen friedlich in ihrem Gehege. Ganz nah waren sie herangekommen, ich konnte die Böcke erkennen, denn der Bast wuchs schon. Irgendwann ging ich weiter, in Richtung Kirche. Vor dem Tor stand er, der Herr Pfarrverweser und schaute mich vorwurfsvoll an. Dann drehte er sich um und wetzte in die Kirche. Nachdem er drinnen war, hörte ich, wie er den Schlüssel von innen umdrehte. Da stand ich, ausgesperrt. Ich wartete noch eine zeitlang, dann ging ich zu meinem Auto und dachte:
"In Ungnade gefallen, keine Gemeinschaft mit den Heiligen, geschieht mir Recht, warum habe ich ihm all die Jahre verschwiegen, dass ich konfessionslos bin."


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