Die Schachtel mit der rosa Schleife


Der verrückte Marionettenspieler zog all die silbernen Fäden vor dem dunklen Hintergrund der Nacht.
Großzügig beschenkte er zerbrechliche Puppen aus Fleisch und Blut auf der Bühne des riesigen Theaters: Schönheit bekamen sie, und Charme, Klugheit, Kraft und List; Freude, Energie, Selbstwert und Kraft.
Dazu schleuderte er die vermeintlichen Wahlmöglichkeiten wie Glasperlen in die Luft: den Zweifel, den Hass, den Neid, die Eifersucht; weiters die Schwäche, die Abgetrennheit, die Gewalt, die Lüge, den Schmerz, die Grausamkeit.
Die Fäden schwankten hin und her von seinen Fingern gesteuert, und Tausende von Figuren berührten einander, stießen einander, erregten sich und entdeckten Gefühle, Emotionen und Ängste.
Sie spielten das Spiel der Liebe und der Enttäuschung, jenes des Kampfes und des Friedens, des Nehmens und des Gebens.
Als die Aufführung zu Ende ging, legte der Marionettenspieler seine Kreaturen sorgfältig in ihre Fächer zurück: Sie waren sich bewusst über die eigene Macht, getäuscht waren sie aber, zu glauben, diese Macht tatsächlich ergreifen zu können. Eines Tages erfand der Marionettenspieler das Heute und spielte willkürlich mit dem Morgen; unzufrieden und gelangweilt von den abhängigen Rollen seiner Geschöpfe warf er einige Figuren, erwürgt durch die eigenen, wirr durcheinander laufenden Fäden, in den Müll.
Wir fanden Ihn durstig und erschöpft am Rande eines vertrockneten Baches. Er erzählte uns das sinnlose Märchen eines Menschen, der auch Gott war und eines Gottes, der menschliche Gestalt annahm.
Er sagte, er wurde gekreuzigt, gequält und belächelt; und dass er seinen Herrn ständig gerufen hatte, aber von ihm nicht gehört wurde.
Er sagte noch, man habe Ihn als König eines Dornbusches gekrönt.
Wir glaubten Ihm nicht.
Wir waren müde.
Die mühevolle Reise, die wir hinter uns hatten, zeigte sich schwieriger und länger als ursprünglich geplant; wir gingen durch die Hölle, wir bewältigten Klüfte und Berge, endlose Wüsten, undurchdringliche Wälder, verdorrene Städte jenseits des Unsichtbaren, und wir durchstreiften den Himmel auf der Suche nach der Wahrheit. Unser einziges Gepäck war eine Kartonschachtel mit einer rosa Schleife gebunden:
Ihr Inhalt war eine dunkle, mondlose Nacht.
Ein Geschenk unserer Zeit trugen wir mit uns; auf dem Deckel der Schachtel glitzerte eine Inschrift mit goldenen Buchstaben :" Fragile - NICHT öffnen". Andernfalls hätten die düsteren Mächte der Finsternis noch einmal ungehindert geherrscht.
Und jene schwere unhandliche Schachtel stellte paradox unseren einzigen Passierschein in das Licht dar.
Wir gaben dem Mann Regenwasser, das wir mühsam aus einer Mulde des Asphaltes holten und versuchten, seine tiefen Wunden zu behandeln.
Seine Hände sahen besonders schlimm aus, wie auch der Schnitt an seinem Brustkorb.
Wir befreiten Ihn von der Krone aus Stacheln, aber verletzten Ihn dabei noch mehr.
Er rief nach Seinem Gott und verwechselte Ihn mit dem eigenen Vater.
Wir spritzten Ihm Antibiotika, um die Schmerzen zu lindern.
Dann sprach er wieder und verriet uns, wie sein Leben den Gesetzen eines unverständlichen Schicksals unterworfen war; Aussöhnung wollte er durchbringen, Freiheit und Spontaneität. Nun, meinte er, es gelang ihm nicht.
Wir schauten einander an und legten eine Hand auf seine Stirn: Heiß war sie, und wir hatten kein Aspirin.
Er öffnete die Augen und versuchte, weiter zu reden; leider vergeblich.
Zu dritt saßen wir auf einer grauen Straße, zwischen gelben Straßenlampen und einem kargen, steilen Hügel gegenüber: eine Frau, ein Mann und ein vermeintlicher Sohn Gottes.
Unweit von uns starrten versteinerte Statuen mit weit offenen Augen die Ruinen eines gläsernen Gomorrha und eines Sodom aus Stahl an.
Der Himmel war wie Blei, die Lichter monochrom.
Irgendwo aus dem Ende jener grauen Straße, neben dem Meer, hörte man Stimmen, Geschrei und Lärm.
Der wegen Mangels an Beweisen freigesprochene Barabbas trat jubelnd auf die Bühne und bedankte sich im Namen Gottes; mit Genugtuung stellte er sowohl die geschmierten Rechtsanwälte als auch die manipulierten Geschworenen und die blinden Richter öffentlich vor.
Applaus bekam er, Beifall für ein musikloses, am Strand veranstaltetes Konzert. Das Licht wurde immer trüber, als das Klatschen anschwoll, und wir hörten zu, machtlos. Der Mann bei uns murmelte etwas Unverständliches, während sein Körper furchtbar zitterte.
Angst bekamen wir, als ein gelbes Auto an uns vorbei raste und von der uns entgegen drängenden Menschenmasse verschluckt wurde.
Wir riefen die Wahrheit auf.
Als Antwort kam aber das Echo einer Lüge.
Wir öffneten die Schachtel mit der rosa Schleife.


(Gianni Lorenzo Lercari ©)