Der Turm der Falken


Sie flogen über ein Kind, das nie geboren wurde, flogen über eine schwarz bekleidete Frau, flogen auf die Spuren in dem Sand, flogen auf eine scharfe Klinge.
Sie landeten auf dem steinernen Turm und starrten das Meer an.
Sie guckten die Wellen an.
Sie schauten die Klippen an.
Sie sahen die leuchtende Sichel.
Sie ließen sich vom Wind tragen und hörten das Geschrei.
Sie hörten das Weinen.
Sie hörten den Lärm.
Sie hörten die Stille.
Schrill sangen sie, reden konnten sie aber nicht; sie verwechselten die Nacht mit dem Sonnenlicht, die grellen Flammen mit den Blitzen des Sturmes, die weißen Klippen mit den Reflexen des Feuers.
Trockene Büsche rollten im Wind, Meerwasser wurde in die Luft geschleudert, Muscheln lagen im Sand, grau wie der Himmel.
Wir erreichten den Turm als es nieselte.
Nur eine Ruine aus Stein, vom Salz zerfressen. Die Feuchtigkeit spürten wir bis in die Knochen, den scharfen Duft der Algen rochen wir.
Eine blitzschnelle Erinnerung traf uns. Sie verschwand wieder.
Pyramidenförmige Steinmauern, Moos und Flechten als Zeugen ihrer Geschichten, und die Heide, die sang, sang wie eine eintönige Orgel im Nebel.
Wir suchten unsere Namen und schauten einander misstrauisch an; wir starrten in unsere Augen auf der Suche nach einem Rest von Liebe. Wir berührten unsere Fingerspitzen, streichelten unsere Haare und suchten nach den Falken zwischen den tiefen Wolken.
Dann zogen wir durchsichtige Fäden, die sich zu dem riesigen Spinnengewebe unserer Fantasien verwandelten, und warteten.
Es kam die Nacht, es kam die Morgendämmerung.
Es kamen die Falken und sie flogen über die Kinder in uns, sie flogen über unsere langen Schatten, sie flogen über unsere Träume und über unsere Realität.
Dann glitten sie müde auf die Zinnen des Turmes.


(Gianni Lorenzo Lercari ©)