Der Baum mit den roten Blättern


Die kalte Umarmung der Feuchtigkeit.
Jenseits des weißen Bogens erstreckte sich das riesige, leere Wohnzimmer, in dem lediglich ein Baum in der Ecke stand und die roten Blätter, die an seinen Ästen hingen, als ob sie bereit zum Fliegen wären.
Der helle Fußboden war voll von Glasperlen, bunte Papierbögen bedeckten die Fliesen, drei Holzmasken, die mit hohlen Augen von der Wand aus alles anstarrten, ein paar Spinnengewebe glitzerten neben dem Fenster, und staubige Gardinen versteckten geschlossene Läden.
Susanne ging unruhig hin und her, die Hände tief in die Taschen des schwarzen Mantels gesteckt, die Augen weit offen; sie dachte an nichts, sie sagte nichts, sie sah nichts;
sie pendelte nur zwischen Wänden, Fenstern, Türen, Fußboden und Decke.
Neben der steinernen Basis des Baumes sah sie eine Kristallschachtel mit kleinen, gesprenkelten Muscheln; sie nahm sie in die Hände: Jede von den kleinen bunten Perlmuttgrotten konnte das Geräusch des Meeres und das Heulen des Windes wiedergeben. "Schlaf nicht ein", sagten ihr die Muscheln, als sie ihnen ihr Ohr näherte, "jemand in einem Teil dieser Stadt schaut die Dunkelheit an und fragt nach dir"
"Ich will dich sehen, dich sehen, dich sehen, sehen...", flüsterten sie, "ich brauche dich, brauche dich, dich..."
"Was hast du, du, du...?" schrieen sie, "willst du nicht akzeptieren, dass alles zwei Seiten hat?"
Susanne öffnete plötzlich die Hand und die Kristallschachtel fiel mit Lichtreflexen hinunter, die Muscheln flogen, verstreuten sich im Raum; so voneinander getrennt, konnten sie nicht mehr reden.
Draußen fing der Regen an zu fallen und die Terracottaplatten vor der Glashaustür wurden glänzend wie ein flacher Spiegel, der rundum blickte und wartete, dass all jenes Wasser die Dinge gründlich waschen konnte.
Die Muscheln blieben weiter still in ihren Ecken und Bilder entstanden aus dieser Stille, Bilder die sich in Erinnerungen verwandelten und Susanne umhüllten: Die Dämme aus Schlamm, Steinen und Holzstücken in den Wildbächen, die Grotten voll von Venushaar, das unbeschwerte Lachen der Kinder im Tümpel des Riesenschilfes, die Gerüche und die Stimmen des Waldes ließen ihr Wesen schwingen.
Sie saß jetzt auf dem Boden und streckte den Arm aus, um einen rosa Tischtennisball zu erreichen; dann warf sie ihn an die Wand und hörte das Echo im leeren Zimmer.
Der Ball sprang mehrmals auf und sie warf ihn wieder gegen die Wand; nochmals zurück, wieder gegen die Wand, bis ihre zarten Finger ihn zerdrückten und ihn auf dem Boden liegen ließen.
Dann stand sie ruckartig auf, wickelte den schwarzen Mantel eng um ihre Schultern und verließ den Raum.
"Ich sollte ein Feuer anzünden", dachte sie, " ein Feuer, um diese verrückte sinnlose Komödie zu verbrennen, ein Feuer, um den ganzen Blödsinn, den man gesagt hat, zu vernichten, ein Feuer, um die Gespenster zu ersticken, die gemeint haben, die Realität wäre anders als das, was sie ist."
Aber nunmehr war das Spiel vorbei und der Vorhang der Heuchelei so dünn, dass er durchsichtig schien; das Spiel war vorbei und als es sich verabschiedete, trug es das Kleid des Savoir-faire und war so regungslos wie ein Chamäleon.
Susanne öffnete die Tür zum Foyer und rutschte in die Perspektive eines Wolkenkratzers und eines Turmes des 13. Jahrhunderts; sie starrte jene absurde Choreographie an und merkte, dass alle Erwachsenen, die es dort gab, eigentlich Kinder waren und die Kinder, sie waren Erwachsene.
So groß war die Überraschung, dass Susanne regungslos vor der offenen Tür stand und es ihr die Sprache verschlug. Aber dann sprachen die Kinder zu ihr und sie merkte, dass sie ihre Sprache verstand; sie sprachen jenen Teil ihrer eigenen Sprache, den sie nie lernen wollte.
Susanne tat den ersten Schritt hinaus.
Ein rotes Blatt fiel vom Baum herunter und fing an zu fliegen.


(Gianni Lorenzo Lercari ©)