Der Falkenjunge

Sawitri liebt Raubvögel. Davon mag sie am meisten den Falken. Sie sagte mir: "Ein Falke ist weder zu groß noch zu klein. Sein Körper ist wohlgeformt, und ein Falke fliegt ästhetisch: Ewig gleitet er lässig unter einem azurblauen, indischen Himmel. Aber er kann seine Geschwindigkeit blitzschnell erhöhen. Und beim Jagen schießt er. Er ist nicht gierig und sitzt nicht lange um ein verfaultes Aas. Und jetzt erzähle ich Dir eine Falkengeschichte:

Ein erschöpfter Aasgeier, dessen Rinderaas von Hyänen weggenommen wurde, saß sauer und fragte sich:
Werde ich scheitern?
Oder scheitere ich schon?

Ähnlich grübelte verzweifelt ein indischer Uhu, dem eine Schlange entlaufen war:
Entrinnt mir die Fähigkeit?
Oder beharrt sie auf Gestrigem?
Oder ob ich sie - die Fähigkeit - jemals besaß?

Seine philosophische Quintessenz zog der Adler nüchtern:
Jeder Gedanke hat seine Rechtfertigung.
Und damit jedes Verzweifeln.

Unbekümmert von all diesem flog ein Falke höher und wilder. Seine Krallen stürmten. Mal schnappte er mit Erfolg einen Fisch. Aber oft stießen seine Krallen schmerzhaft bloß gegen die Felsen. Voller Schmerz flog der Falke noch höher und noch wilder. Und dabei dachte er sich: Das ist meine Natur. Das ist meine einzige Fähigkeit. Nichts anderes kann ich ... Somit drehte sich der Falkenjunge blitzschnell und seine Krallen stürmten.


Sehnsucht

Sawitri saß in der Ecke. Traurig, nachdenklich und starr. In so einem Gemütszustand sah ich sie selten und traute mir als ihr guter Freund zu, nach ihrem Wohl zu fragen.
Schlecht! erwiderte sie meiner Erwartung gemäß.
Warum?
Ich habe Sehnsucht.
Hast Du Heimweh? Oder bist Du wieder frisch verliebt?
Vielleicht!
So antwortete die Inderin oft: lakonisch und nicht eindeutig klar. Und ich als neugieriger und moderner Abendländer versuchte, immer wieder herumzustochern. Wie diesmal:
Ach komm, erzähl mal!
Setz dich hin! sie fasste meinen Arm, und sie setzte mich neben sich. Gut, ich erzähle dir eine Sehnsuchtsgeschichte aus dem Orient, wo meine Wurzeln sind:
Majnu, der Geliebte, hat seine Laila lange nicht sehen können. Seine Sehnsucht wurde immer größer und unerträglicher. Verzweifelt heulte er und bat Gott:
Allmächtiger, schick mir meine Laila zurück!
Und so betete er lange - sehr, sehr lange.
Und Gott schenkte endlich Majnus Klagerufen Gehör. Eines Abends, als Majnu weiter wegen Laila heulte und Gott ununterbrochen um ihre Wiederkehr bat, klopfte es an der Tür. Schluchzend fragte Majnu:
Wer ist da?
Laila!
Wer?
Laila! Deine Laila!
Nein! Das kann doch nicht wahr sein! Geh weg! Geh weg!
Bist du wahnsinnig geworden? Ich bin es! Ich bin... deine Laila! Mach doch die Tür auf!
Nein! Geh weg! Geh weg! schluchzte Majnu weiter.
Hast du vollkommen deinen Verstand verloren? Solange sehnst du dich ungeduldig nach mir. Jetzt bin ich da und du sagst "Geh weg!"
Ja, Laila! Vielleicht habe ich doch den Verstand verloren. Und nun soll mir die Sehnsucht nach dir nicht vergehen.
Und Majnu schluchzte weiter...


(Aus: Die Inderin, Wiesenburg Verlag,
Schweinfurt 1999, ISBN 3-932497-32-5, DM 19, 80)