Der Sandershäuser Frühling und der indische Monsun um die Jahrtausendwende


Nie habe ich so einen intensiven, deutschen Frühling erlebt. Er trat dieses Jahr ohne Verzögerung an, und ließ uns weiter zweifeln, indem er weiter stehen blieb - wie ein Steinbock. Ja, keine Spur vom listigen Aprilwetter! Die trockenen Tage summierten sich unauffällig, und die dämmernden Abende wurden immer duftiger - rauschend.

Der Frühling fühlte sich eitel, als er uns staunen sah. Und in seinem Hochmut entschloss er sich, mit dem Hochsommer zu duellieren. Damit wurden die warmen Tage richtig heiß. Und es schien, dass samt weißen und blauen Fliedern viele andere Blumen frühzeitig verdursteten, die sich eigentlich noch ein paar Wochen liebkost hätten.

Und es musste regnen, um den Hitzkopf ein wenig zu kühlen. Wiederum war es kein deutsches, anhaltendes Nieseln, sondern es fielen Schauerblöcke, die die Erde mit ihren dicken Tropfen einhämmerten - wie im Sommer.

Daraus ist ein Wetter entstanden, das mich sehnsüchtig zum indischen Monsun bringt.

Nach jedem Regenschauer riecht es hier zur Zeit ein wenig wie nach dem indischen Monsun. Ja, ein wenig, weil weder die indische, sengende Hitze noch das darauf folgende Drama des indischen Monsuns im Mitteleuropa einen Vergleich finden lassen. Und das >>Drama<< ist eine treffende Bezeichnung für diesen gewaltigen Wolkenbruch, der mit jeder Stunde nur intensiver und zügelloser wird. Tagelang. Nächtelang. Wochenlang. Damit avanciert die Mutternatur im Kriegsfeld ohne jedwede Hindernis, und den Atombomben - Besitzern bleibt es nichts übrig, als andächtig um ihre Erbarmung zu bitten. Dann entscheidet die Mutter den Auslauf ihres Schauspieles. Nach ihrer Laune und nach den Karmas! Und wir wissen, dass der indische Monsun nicht selten als Tragödie ausartet. Andererseits verspätet er sich ein paar Tage, verhungern Millionen Kreaturen, und ihre Seelen verlassen zwangsläufig ihre Hüllen.

Das Elternhaus war modern gebaut, und lag sehr hoch. Und in jener ostindischen Stadt, wo der brennende Sommer ewig lang ist, bedeutete Regen für mich ein purer Genuss: Die Wolken, die Kühle, das Prasseln, das Muttergebäck, der schwarze Tee mit Milch und Zucker und das Fenster. Ich saß lange am Fenster und betrachtete gefesselt das Naturschauspiel. Weder meine Nase noch meine Ohren wurden satt. Die Gerüche dampften von der fast ausgetrockneten Erde, und die Kugeln trommelten. Im Monsun regnet es nicht - es kugelt. Und ich säße noch länger auf dem Fenstersims, wenn mich die trockenen Schulaufgaben der Algebra und Chemie nicht zum Lernen gedrängt hätten.

Nachtsregen kippte die kratzende Tagesschwüle in die erfrischende Kühle um, und die Kinder schlüpften im tiefen Schlafgenuss unter den Bettlacken, und sie merkten das erst morgens. Die Septemberluft roch damals wie jetzt im Mai hier in Sandershausen - naß und nach Erde. Daher lasse ich mein Fenster weit auf, und ich liege lange wach - vergnügt!

 

Muttersprache, Fremdsprache und Dichtung

Vor einigen Jahren stellte ich mich während einer Lesung im Autoren-Café als "deutsch-indischer Dichter" vor. Sofort merkte ich eine gewisse Irritation im Publikum.

Verehrte Damen und Herren! Ob Sie es glauben oder nicht, fällt diesem Dichter in seiner jetzigen Schaffensphase kein treffenderer Ausdruck ein als diese zwei Beiwörter "deutsch und indisch", um sich selbst zu bezeichnen.

Selbstverständlich ist Deutsch für mich eine Fremdsprache. Meinem Willen nach wird das weiter so bleiben, das heißt, ich möchte Deutsch wie die Einheimischen weder "akzentfrei" sprechen noch "fehlerlos" schreiben. Wie viele oder ob Einheimische akzentfrei sprechen und fehlerlos Deutsch schreiben, gehört wiederum zu einem anderen Bereich. Allerdings benutze ich die Fremdsprache Deutsch auf keinen Fall bloß für einen blödsinnigen sinnlosen Smalltalk mit einem Nativespeaker vor dem Kasseler Rathaus. Sie, die fremde Zunge, ist für mich das Instrument, mit dessen Hilfe ich Geschehnisse und Phänomene meiner Umwelt erfasse und sie weiter verarbeite: Organon der literarischen Verarbeitung!

Liebe Leser! Falls Ihnen diese Behauptung an dieser Stelle zu vage oder gar unglaubhaft vorkommt, gebe ich Ihnen als Gleichnis die Hauptformel der heutigen Deutschlehrer, mit der sie den Ausländern gutes Deutsch beizubringen versuchen. Diese Zaubermethode heißt: "Denk auf Deutsch, dann kannst du Deutsch sprechen!" Viele gehen sogar so weit: "Wenn du in einer Nacht Deutsch geträumt hast, wirst du vom nächsten Morgen an fließend Deutsch sprechen!" Bei mir verlief dieser Prozess jedoch etwas anders. Meine Träume und mein Schreiben im Deutschen sind flüssiger und schöner als mein tägliches Gelaber. Gott sei Dank!

Kurz gefasst heißt das alles, dass ich in einer Fremdsprache, die hier Deutsch ist, kommuniziere, denke und träume...

Diejenigen, die noch denken, dass Gedichte bloß unsere Empfindungen und Gefühle sind, könnten von mir aus eine bestimmte Leser- bzw. Konsumentengruppe bilden, aber weniger wirkliche Liebhaber der Poesie sein. In einer Lesung wurde ich von einer Kollegin gefragt: "Wie kannst du so was? Gedichte sind für mich die innersten Gefühle und Empfindungen, die ich mir nur in meiner Muttersprache vorstellen kann." Diese Sorte Menschen können durchaus Gefühle haben. Sie sind jedoch keine schöpferischen Wortakrobaten, die in ihrem Schaffen ihre Empfindungen mal erbarmungslos kalt ausschlachten oder mal übertrieben zugespitzt verschönern, um vielleicht dem Wesen und der Erscheinung ein Stück näher zu rücken. Die Dichtkunst hat ihre eigene Sprache. Sie hat ihre eigenen Regeln und Gesetze, die sich weniger mit einer Formel a2 + b2 = c2 vergleichen lassen. Die Aufgabe der Kunst besteht im ständigen Überschreiten derartiger Formeln. Damit kennt jeder Text und jedes Kunstwerk seine eigenen Gesetze, über die sich zum Teil bezüglich des entstandenen Werkes und teilweise hinsichtlich des Schaffenden diskutieren lässt.

Wie schwierig und einfach in einer Sprache, auch in der Muttersprache, der gesuchte und treffende Begriff zu finden ist, kennen Sie schon von der Korrektur Ihres Deutschaufsatzes in der Schule und Ihrer Seminararbeiten an der Universität. Den Verfechtern des genauen Begriffs möchte ich meine Stellungnahme zu dieser Problematik vorlegen und zwar, dass ich in der Hinsicht einen meiner Lehrer Alfred Döblin weiter huldigen werde: Die Sprache kann nur versuchen, sich der Wirklichkeit anzunähern und eine gewisse Genauigkeit zu erreichen. Aber sie hat ihre Grenzen. Also, weg von dem Wahn des genauen Ausdruckes. Die Suche nach einer Sprache, welche die Dinge und Geschehnisse wirklichkeitsgetreu darstellen soll, ist vergeblich. Sie ist eine Einbildung!

Meine Muttersprache "Hindi" ist der zweite Teil meines Denk-, Schreib-, und Sprechinstrumentes. Dies gilt bis zum heutigen Tag, an dem ich diesen Aufsatz verfasse. Unter diesem Aspekt ist der zweite Teil des Adjektivs "indisch" mit meinem indischen Wesen und mit meiner Muttersprache "Hindi" gleichzusetzen. Ich weiß nicht genau, in welchen Verhältnissen diese zwei von mehreren anderen Sprachen in meinem Gehirn agieren. Bei mir stelle ich nur fest, dass eine der anderen hilft, und die beiden Sprachen, nämlich Deutsch und Hindi, mir in gleicher Weise wichtig sind.

Es gibt Menschen, die für alle Phänomene Beweise verlangen. Sie werden an dieser Stelle mit ihrem Lauthals schreien: "Weis uns nach, wie es geht! Komisch! Eigenartig! Ich kann es nicht verstehen!"

Verehrte Leser! Dann könnte ich mich für die scheinbare flüchtige Zufriedenheit jener Kreaturen als Untersuchungsobjekt den Psychologen, Psychiatern, Linguisten,... unter der Voraussetzung zur Verfügung stellen, dass mein Schreiben in Deutsch weiter fortgesetzt wird.

Auch eine bestimmte Gruppe meiner Kasseler Germanistikkommilitonen, die mich wiederholt fragen: "Warum schreibst du auf Deutsch?" werden an dieser Stelle höchstwahrscheinlich erstmals ein langes Gesicht machen und dann solche Äußerungen herausbringen: "Was soll das sein? Warum möchte er uns belehren? Das kennen wir doch alles vom Psycholinguistikseminar." Derartige Fragen und Äußerungen erinnern mich vor allem an die Mehrheit meiner Neu-Delhier Kommilitonen, die sich ausschließlich für die Note ein paar Tage vor der Klausur an dem Paukwettbewerb beteiligten. Gleich nach zwei Tagen waren die auswendig gelernten Theorien und Ideologien passé. Hegel, Hesse, Habermas, Chomsky,... wurden bis zu der nächsten Klausur aus ihrer pragmatisch funktionierenden Welt verbannt. Schade um die Tonnen Papier, die in Erwartung auf gute Noten mit den Worten jener Dichter und Denker immer wieder geschwärzt wurden. An ihrer Stelle tauchten beim Neu Delhier Bildungsbürger wieder die gängigen Vorurteile und Klischees auf: Einer aus Neu-Delhi oder aus Bombay sah auf die anderen Dörfler herab, die scheinheilige Brahmanen-Intelligentia aus dem "progressiveren" Bundesland Maharastra verbündete sich heimlich gegen die unteren Kasten und gegen die unterentwickelten Regionen. Natürlich preisen in der Öffentlichkeit diese machtgierigen oberen Schichten Emanzipation, Gleichberechtigung, Abschaffung der Kastenhierarchie, Aufbau einer humanistischen sozialistischen Demokratie,... an. Ich zweifele jedoch immer wieder daran, dass viele der Bildungsbürger, auch die der westeuropäischen pluralistischen Demokratie, wirklich eine Änderung wollen. Gerade dann, wenn es um den Vorrang des Eigenen und des Vertrauten geht!

Meine Damen und Herren! Zu jeder These gehört auch eine Antithese, und die Stellungnahmen eines schaffenden Künstlers können bis heute in seltenen Fällen allen gerecht werden. Und ich betrachte mich nicht als Ausnahme dieser Regel. Also, sollten meine Worte und meine "andersartige" Dichtung einige immer noch irritieren, und sollten jene Menschen eine Qualitätsänderung in der deutschen Literatur fürchten, dann möchte sie dieser deutschsprachige Autor indischer Herkunft herzlich um das Recht bitten, weiterhin auf Deutsch zu schreiben und seine Literatur in einem türkischen Verein auf Deutsch vorzutragen. Seltsam! Da fühlen sich wieder einige, wie auch viele meiner deutschen Leser, von derartigen Texten angesprochen.


(Aus: "Die galoppierende Kuhherde", Essays und andere Prosa, 2001, Wiesenburg Verlag, Schweinfurt, ISBN 3-932497-58-9 Broschur, ca. 100 Seiten, mit Grafiken des renommierten Künstlers Michael Blümel)