Der hilfreiche Trunk

Die geheimnisvolle Dame in der meergrünen Samtrobe nickte ihm kaum merklich zu, verbarg sogleich ihr scheues Lächeln hinter dem Fächer und blickte zu Boden.

Er überlegte fieberhaft, wie er es wohl anstellen könne, auf unverfängliche Weise mit der schönen Unbekannten ins Gespräch zu kommen. Denn seit sie vorhin auf der Treppe nebeneinander zu stehen gekommen waren, seit sie einander nur einen allzu flüchtigen Moment lang in die Augen geblickt hatten, raste sein Herz in Aufruhr. In Gedanken war er der Schönen gefolgt, als sie auf einer Marmorbank im Rosengarten Platz genommen und lange Zeit traumverloren in die Baumkronen geschaut hatte.

Konnte es möglich sein? War sie es wirklich?

Ihn überkam ein verloren geglaubtes Verlangen und er seufzte voll Sehnsucht. Damals, als er zur Linderung seiner zahllosen Unpässlichkeiten einige Monate an der See verbracht hatte, war er beim allabendlichen Lustwandeln dann und wann diesem zarten Wesen, das zur immergleichen Tageszeit gesenkten Kopfes und hurtigen Schrittes dieselbe Strecke zwischen der unscheinbaren Kapelle und der Dorfschenke zurückgelegt hatte, begegnet. Ein eigentümlicher Duft war von der Gestalt ausgegangen: Sie roch nach Zimt und Schokolade!

Doch er hatte zu keiner Zeit den Mut aufgebracht, sich der bezaubernden Rätselhaften zu nähern. Er hatte im Stillen gelitten, gehofft, gewünscht, doch nicht gehandelt. Dann, an einem stürmischen Sommertag, war sie mit ihrem Gefolge abgereist und er war zutiefst betrübt am Hafen zurückgeblieben und hatte das Schiff am Horizont verschwinden gesehen.

Diese Erinnerung, gemeinsam mit jenen an das ebenmäßige Gesicht, die blassen Wangen, die sich allem Anschein nach den Küssen der sommerlichen Sonnenstrahlen entzogen, hatte ihn stets begleitet, wohin er auch gereist war.

"Mein Schicksal meint es gut mit mir", dachte er und wusste im selben Augenblick, er würde die Gelegenheit nicht abermals leichtfertig vertun. Auf der Veranda ertönte Gelächter, einige Mädchen liefen über den Rasen, an der Marmorbank vorüber, doch die schöne Unbekannte blieb in ihr Schweigen versunken.

Mit einem Mal kam dem jungen Mann eine glücklicher Einfall: Er würde dem Küchenjungen auftragen, unverzüglich einen Krug jenes wohlschmeckenden Trunkes herbeizubringen, dessen Duft ihn all die vergangenen Jahre hindurch den Trennungsschmerz ertragen hatte lassen.

Als er sich wenig später der Marmorbank näherte, den wunderbar duftenden Trunk zu servieren, hieß ihn die Angebetete mit einer vornehmen Geste, an ihrer Seite Platz zu nehmen.

Der junge Mann verbeugte sich höflich, setzte sich neben die zarte Dame in der meergrünen Robe und war überglücklich.

(Doris Krestan; 12. März 2001)