MÄRCHENGEDICHTE

Diethelm Kaminski

 

Märchen frei Haus

Zum Glücklichsein braucht´s herzlich wenig:
ein Schloss und einen Prinzen oder König.
Die Regenbogenpresse liefert sie frei Haus.
"Füllen Sie nur noch diesen Bestellzettel aus.
Sie werden das Abo bestimmt nicht bereuen!"
"Na so was! Die Prinzen entsprechen nicht Ihrem Geschmack?"
"Nächste Woche gibt´s neue!" verspricht der Verlag.
"Dürfen wir Sie auch weiter monarchistisch betreuen?"

Deshalb

Auch als Störchin hättest du
die schönsten Beine,
das weichste Gefieder
und den süßesten Schnabel.
Du schrittest mit Anmut und Würde
über deine Wiesen
und ließest dich von mir
mit Fröschen füttern.
Wir könnten zwar
die Schnäbel wetzen
und mit den Flügeln klappern,
auch ein Nest bauen,
groß wie ein Wagenrad,
hoch oben auf dem Kirchturmdach,
für niemanden erreichbar,
aber mit dem Küssen
wäre es endgültig vorbei.
Und deshalb, nur deshalb,
sag niemals M U T A B O R.
Und auch ich spreche
das verlockende Wort erst aus,
solltest du als Fröschin
wiedergeboren werden.
Um dich vor Liebe zu fressen.

Übereifer schadet nur
 
Der arrogante Hase
hängt seine freche Nase
ganz mächtig in den Wind.
Der Igel,
träge wie ein Ziegel,
ist nicht wie der vor Ehrgeiz blind.
Bevor er mit absurdem Rasen
beim Wettlauf Schweiß vergießt,
plant er, wie er dem dummen Hasen
den schönen Tag vermiest.
Man unterschätze nie
das Hirn der Langsamen und Kleinen.
Während der Hase sehr verdrießlich
durch öde Ackerfurchen schießt,
das Igelehepaar genüßlich
den warmen Sonnenschein genießt.
Wer´s nicht im Kopf hat,
will es ihnen scheinen,
der hat es in den krummen Beinen.
Während dem allzu selbstbewussten Hasen
schon Tod und Niederlage nahten,
zählten die ausgeruhten Sieger längst
die leicht verdienten Golddukaten.
Gefährlich sind die ehrgeizigen Taten.
Den Übereifrigen deckt früh der grüne Rasen.
Legt, wenn ihr klug seid,
eure Pfoten in den Schoß.
Dann ist die Aussicht auf ein langes Leben groß.

Vorlesestunde

Beim Wolf wird heute vorgelesen,
komm, klettere, Rotkäppchen,
auf meinen Schoß.
So nebenbei zeig ich dir dann
mein wölfisch-wildes Wesen,
indem ich dich verschlinge nackt und bloß.
Du braves Mädchen meinst,
mit meinen Raubtierblicken?
Irrtum: Du musst dich
in dein märchenhaftes Schicksal schicken!
Nur deine altmodische Tracht
ist mir ein rotes Tuch.
Und nun hör zu: Der Wolf liest heute vor
aus einem Mädchenfresserbuch.
Ganz zwecklos, merke, wäre,
ein Gnadengesuch!