Aesop:

 

Der alte Athener und seine zwei Geliebten

Ein leicht ergrauter reicher Athener hatte zwei Geliebte. Die eine war so alt wie er, die zweite war viel jünger.
Er traf sie abwechselnd.
Er hatte sie beide sehr lieb und die beiden hatten ihn auch sehr lieb.
Die jüngere aber hasste seine leicht ergrauten Haare. Sie wollte, dass er jünger aussähe. Nachts, wenn er neben ihr tief schlief, zupfte sie ihm vorsichtig alle weißen Haare au., damit nur die schwarzen blieben. Sie wollte ihn jung und schwarzhaarig haben.
Die Ältere tat es umgekehrt.
Wenn er zu ihr kam und nachts tief schlief, zupfte sie ihm seine schwarzen Haare aus, damit er älter aussähe und zu ihr passte. Sie tat es auch aus lauter Liebe. Es dauerte nicht lange, da hatte der reiche Athener keine Haare mehr. Und die Geliebten hatten einen kahlköpfigen Mann.

Über Geschmack kann man nicht streiten, da Geschmack nicht messbar ist

*****

M a d o n n a

Es gab da vor einiger Zeit, aber es ist noch nicht lange her, eine madonnenhaft schöne Frau, die zudem die Gabe hatte, sich überaus anmutig vor einem großen Publikum zu bewegen und dazu betörend mit mal weicher, mal rauer Stimme zu singen. Auf allen Plakaten, wenn sie auftrat, und allen Titelfotos der Illustrierten erstrahlte ihr schönes Gesicht. Sie selbst gewöhnte sich daran, sich auf diesen Abbildern als die sie war, zu erkennen. Umso erschreckender war für sie das gealterte Gesicht, das sie eines Tages, bei einem zufälligen Seitenblick, aus ihrem Spiegel ansah.

Da machte sie sich auf den Weg zu einem Schönheitsschneider und ließ sich eine junge Haut zuschneiden, die sie sich überzog und damit die gleiche blieb, wie sie das Volk sich so lange schon vorstellte und zum Idol erhoben hatte. Die schöne Erfolgsverwöhnte wollte so bleiben, wie sie sein sollte .Das Alter, der geheime Vorbote des Todes, bemächtigte sich jedoch leider auch dieser durch einen Hautüberzug stillstehenden Jugendschönheit, vorläufig noch mit leisen Schritten, was die schöne Frau aber in unruhiger werdenden Nächten in kalte Angst versetzte. Getröstet wurde sie aber weiterhin vom Glamour ihres Erfolgs dank ihres gymnastisch austrainierten Tanzauftritts und ihres immer rauchiger werdenden Gesangs.

Die schöne Frau, immerfort bewundert auf der Bühne, bedurfte jedoch zur Bestätigung ihrer einzigartigen Person mehr, anderes, Greifbares: die Anbetung eines Liebhabers, ja vieler Liebhaber.

Nun gab es da zwei, die ihr besonders am Herzen lagen.. Der eine war eine gleichaltrige Jugendliebe, die sich gehalten hatte, der andere ein Junger, ein von ihrer jugendlich erscheinenden Schönheit Geblendeter. Der Ältliche, gestört durch den falschen Schein ihres verjüngenden Hautüberzugs, verlangte von ihr, dass sie sich in seiner Gegenwart dieser Überhaut entledigte, die sie augenblicklich wieder überstreifte, wenn der junge Liebhaber ihr Gemach betrat.

Das ging für einige Zeit recht gut. Aber es gab für ihre nicht zu betrügenden Augen schmerzlicherweise ein drittes Echo. Das war ihr Spiegel. Der antwortete nicht wie gewohnt als Jasager, wie man es von einem dienstbaren Spiegel erwarten kann, sondern stellte Fragen , schließlich die immer gleiche Frage: Wer bist du? Da sank die getarnte gealterte Schönheit in eine Ohnmacht, aus der sie zum großen Bedauern des immer noch treuen Publikums nicht wieder erwachte.

 


(Peter Gronau)