Aus "Fletchers Zynisches Wörterbuch"

von Werner Fletcher


Ohren

Ich habe mehr Leute getroffen, die das Denken ausschließlich ihren Ohren überlassen, als solche, die auch ihr Gehirn gelegentlich in den Dienst ihres Denkens stellen. Wenn dies gängige Praxis unter den Menschen bleibt, wobei ich nicht den leisesten Zweifel hege, dass dies so sein wird, dann hängt die Qualität der Gedanken beim größten Teil der Menschheit bald nur noch davon ab, wem sie wann zuhören. Und wenn man sich dann die Leute betrachtet, die am meisten und am lautesten reden, dann kann man sich leicht ausmalen, wohin die Qualität dieses Denkens steuert.


Prominenten-Biographien

Es ist doch heute so, dass im Hühnerhof der sogenannten Promiszene nahezu jeder Zwerghahn sich aufplustert, sich mit literarischen Federn schmückt, weil er glaubt, er sei ein Adler. Dann geht er her und begackert in der nächstbesten Talkshow seine zusammengestoppelten Banalitäten.


Radiergummi

Jedes Mal, wenn ich einen dieser bleihaltigen Schreibstifte mit einem Appendix aus Gummi hintendran betrachte, und die Länge der Mine mit derjenigen des Radiergummis in Beziehung setze, dann muss ich unweigerlich daran denken, wie viel Unwahres, Unsinniges, Unnötiges bis heute schon geschrieben wurde und in Zukunft noch geschrieben werden wird, und dass das Längenverhältnis von Mine und Gummi sinnigerweise ein umgekehrtes sein müsste.



Selbsterkenntnis oder Unbewusstes


Tief aus dem unbewussten Dunkel
dringt an mein Ohr ein leis' Gemunkel.
Souffleuren, die mich zart betören,
bin ich gezwungen zuzuhören.

Ich höre die Stimme des Neides.
Ich höre den Hass, wie er raspelt.
Ich höre die Stimme des Leides.
Ich hör die Vernunft, wie sie haspelt.

Ich höre die Stimme der Unwahrheit,
die Wollust höre ich kochen.
Ich höre die Stimme der Eitelkeit,
die Ungeduld höre ich pochen.

Ich höre die Stimme der Tyrannei.
Ich höre die Gier, wie sie schmachtet.
Ich höre die Stimme der Heuchelei.
Ich hör den Verrat, wie er schachtet.

Ich höre die Stimme der Rebellion,
die Eifersucht höre ich hetzen.
Ich höre die Stimme der Perversion,
die Klinge des Spotts hör ich wetzen.

Den Stimmen hab ich mich verschworen,
sie sind Musik in meinen Ohren,
und leitend steht dem Flüsterchor
als Dirigent die Dummheit vor.


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