Umnacht
(Eine Ausweitung)

von Kerstin Eckberg


1. Köder

Sigrid ist nach dem Streit allein nach Bregenz gefahren; ohne ihn. Und morgen ist Weihnachten! Heinrich dreht Brahms´ Ungarische Tänze lauter, setzt sich auf die Couch und nimmt einen vollgekritzelten Block vom Tisch. Neugierig, und weil er ohnedies nichts zu tun hat, beginnt er zu lesen: Leben nach dem Käsebrot - Die 51. Woche...

Martin sitzt gedankenverloren vor dem Computer und starrt auf grüne Kringel. Diesen Bildschirmschoner findet er erträglich, wenn schon überhaupt. Wieder nur ein paar Seiten mit der Diplomarbeit vorangekommen...
Geometrische Figuren huschen vorbei. Virtuelle Eintagsfliegen, allerhöchstens, nur eben körperlos, denkt Martin. Und während er versucht, sich eine körperlose Eintagsfliege vorzustellen, erscheint auf dem Bildschirm die Zeile: Leben nach dem Käsebrot - Die 51. Woche...
Was soll das? Aber Martin liest weiter...

Michael und Luise liegen hellwach nebeneinander im Hotelbett. Der gemeinsame Kurzurlaub überfordert beide. Jeder für sich findet es mittlerweile unerträglich, ständig die Gegenwart des anderen zu spüren. Aber zugeben würde das weder Michael noch Luise.
Michael dreht sich auf die andere Seite und schaut aus dem Fenster. Diese aufdringlichen grünen Leuchtreklameschriftbänder an der gegenüberliegenden Hausmauer! Michael wartet auf die, ihm inzwischen vertrauten, Wortfolgen. Doch in dieser Nacht erscheint der Satz: Leben nach dem Käsebrot - Die 51. Woche... Schon hat Michael die traurige Luise neben sich vergessen und starrt gebannt auf die flimmernden Buchstaben.

2. Die 51. Woche

Es ist erst Donnerstag, und Anna kann dennoch bereits sagen, dass sie keine besondere Woche war, diese vorletzte Woche des Jahres 1999:
Die Montagsfrühgeburt schlüpfte in Leichenstarre aus dem schneeverregneten Sonntag, den Anna mit Kurt überbrückt hat, hervor. Sie fand sich auf leergefegten Morgenstraßen wieder, eingesponnen in Nachklänge seiner Berührungen. Der Tag beinhaltete endlos scheinende Debatten über alles und nichts mit Menschen, von denen sie jetzt wieder für längere Zeit genug Ein- und Ausdrücke mitgenommen hat, harmloses Gelächter über inzwischen längst Vergessenes und eine halbe Portion Ärger über die Dumpfheit eines abendlichen Treffens mit Luise, einer Freundin.
Anna verabscheut es sogar, wenn Zeit keine Bedeutung hat, stundenlang in flaues Gerede verstrickt zu werden. Der Dienstag trieb unscheinbar an ihr vorbei. Sie versuchte mehrmals, Heinrich zu erreichen. Doch seine beiden Mobiltelefone waren den ganzen Tag abgeschaltet. Dabei hätte sie ihm an diesem Tag wirklich gerne zugehört, wenn er ihr, wieder einmal, (wie viele Jahre kennt sie ihn schon? - Sechzehn Jahre, ja so lange), regelmäßig ausführlich seine Alltagsstörungen erläuterte.
Anna weiß zum Beispiel mehr als genug über die Orgasmusschwierigkeiten von Sigrid, Heinrichs Freundin. Oder über die Eheprobleme von Michael, der mit einer Amerikanerin verheiratet, Architekt, und zugleich Heinrichs bester Freund und liebster Feind ist. Oder über Heinrichs Sehnsucht, nachts in Frauenkleidern durch Innenstadtlokale zu ziehen, wovon Sigrid selbstverständlich keine Ahnung hat. So wie sie auch nicht weiß, dass Heinrich Lieder und Gedichte schreibt. Anna hat ihn nie geliebt, das Gefühl ähnelt einer erfrorenen Knospe. Sie haben einander jedoch aus den Augen verloren. Nein, zumindest das stimmt so nicht. Es ist eher ein beiderseitiges, trotziges Warten auf das Entgegenkommen des anderen gewesen, sodass sie zwischendurch dreizehn Jahre lang nichts voneinander gehört haben. Anna verzieht den Mund zu einem schiefen Grinsen und kippt den letzten Schluck
Punsch hinunter.
Anna zieht die Handschuhe wieder an. Diese Kälte! Zum Glück nur spürbar, wenn sie Gestalt angenommen hat. Die von den Häuserzeilen begrenzten Himmelsstücke sehen wie verstreute Teile eines Puzzlespiels in Blaugrau aus. Im Moment ist sie aber mit anderen Wahrnehmungen beschäftigt. Nämlich damit, dem Straßenkünstler zuzuschauen, der da ganz in goldfarbene Stoffe gehüllt und das Gesicht hinter einer goldenen Maske verborgen, unbeweglich auf seinem Podest steht. Die goldene Figur ist ein beliebtes Fotomotiv, nicht nur für die Touristen, die der strahlenden Erscheinung beinahe ebensoviel Aufmerksamkeit widmen, wie dem ergrauten Stephansdom.
Also gut, der Dienstag ist im Rückblick verschwunden. Der Mittwoch hinterließ insgesamt grob geschätzt zwei Stunden erinnerungswürdiger Unterhaltungen, die allesamt mit verwaschenen Festtagsfloskeln versiegelt wurden. Anna zählt schon nicht mehr mit, wie oft sie "Frohes Fest" oder "schöne Feiertage" sagt oder hört.
Ja, Martins Einladung zum Abendessen rettete den Mittwoch. Martin ist nämlich kein Schablonenredner. Er hat von dem Buch erzählt, das er schreiben will. Anna liebt an ihm vor allem die Wortgewandtheit und seine (auch im Winter) wunderbar zungenwarmen Hände.
Zu Mittag, im Zuckerlgeschäft sprach der Verkäufer davon, dass sie die Frisuren der essbaren Engelsfiguren daheim auffrischen solle, und demonstrierte sogar, wie das zu bewerkstelligen wäre. Anna zog es vor, in die Wand zu schlüpfen, als sich der schwatzhafte Mann kurz wegdrehte. Später, im Schalterraum der Post fragte sie der Bedienstete, ob der Brief "schnell" zugestellt werden müsse. Als Anna verneinte, meinte er gedehnt: "Na gut, dann eben langsam." Worauf sie entgegnete: "Ist dafür auch ein Zuschlag zu bezahlen?"

3. Abstand

Heinrich, der noch immer auf der grünen Couch sitzt, findet das witzig. Dennoch: Wer ist diese Anna, und wer hat das geschrieben? Dass es sich nicht um Sigrids Handschrift handelt, hat er selbstverständlich sofort bemerkt. Er empfindet, wie damals, als er heimlich das Tagebuch seiner Schwester gelesen hat, diesen besonderen Nervenkitzel, etwas Verbotenes zu tun. Heinrich schlägt die nächste Seite auf...

Martin kennt keine Anna. Er steht auf und geht zum Kühlschrank. Praktischerweise steht der Computer in der Küche, so kann Martin alles, was er für wirklich wichtig hält, in einem Raum erledigen. Das erspart blödsinnige Umwege. Im Radio läuft "Winter Kills" von Yazoo. Martin nimmt eine geknickte Zigarette, die letzte, aus der Schachtel. Er schaut in den Eiskasten: Ist nicht viel drin; sollte mal wieder einkaufen gehen. Dann greift er nach dem Stück Emmentaler, und schneidet zwei dicke Scheiben ab, die er auf das Scherzel klatscht. Die vorhin gelesene Wortfolge "Leben nach dem Käsebrot" keimt in seinem Kurzzeitgedächtnis. Er trinkt einen Schluck Milch, direkt aus dem Packerl. Seit er wieder allein lebt, macht er sich über solche "Unarten" keine Gedanken mehr.
Aus der Nachbarwohnung ist schon wieder enthemmtes Gebrüll zu hören. Wie so oft, seit dort vor zwei Wochen dieses junge Pärchen eingezogen ist. Martin zündet die Zigarette an. Er denkt an Lena. Jedesmal, wenn die Nachbarn sich hörbar lieben, drängt sich die Erinnerung an Lena in seine Gegenwart. Er vermisst es, über ihre langen, dunklen Locken zu streichen und sich in ihre goldbraunen Augen zu versenken. Weihnachten ohne sie. Wären sie nur in dieser nebelverhangenen Nacht nicht mit dem Auto nach Graz gefahren. Die Straße hat nicht vereist ausgesehen, und so kalt ist es doch auch nicht gewesen. Martin weiß nur noch, dass Lena plötzlich das Lenkrad verrissen hat. Als er das Bewusstsein wiedererlangt hat, ist Lena reglos in Splittern der zerbrochenen Windschutzscheibe, mit dem Oberkörper, Gesicht nach unten, auf der Motorhaube, gelegen. Ein Sanitäter hat ihm später gesagt, Lena sei noch im Auto verblutet.
Game over, sozusagen. Martin drückt die Zigarette in der Abwasch aus, setzt sich wieder vor den Computer und liest weiter...

Luise ist inzwischen doch eingeschlafen. Sie liegt auf dem Rücken und schnarcht. Michael schnalzt mit der Zunge. Luise murmelt etwas Unverständliches und dreht sich auf den Bauch. Wenigstens atmet sie jetzt leise, denkt Michael. Gerade als er überlegt, ob wohl alle Frauen schnarchen, gibt sein Handy ein klägliches Zirpen von sich. (Er hat nämlich die Lautstärke auf ein gerade noch hörbares Minimum reduziert.) Am Display erscheinen abwechselnd die Wörter "Maria" und "Answer". Michael hat eigentlich keine Lust, mit seiner Frau zu sprechen. Er hat ihr doch eingeschärft, er sei mit Geschäftspartnern unterwegs und sie solle nicht anrufen. Außerdem will er weiterlesen, was die Leuchtbuchstaben da draußen für ihn, (er ist davon überzeugt, dass diese Geschichte nur für ihn sichtbar ist), bereithalten.
Na gut, er drückt die Yes-Taste: "Darling, I asked you not to call me tonight!" Im Hintergrund dröhnt "Every Breath You Take", sodass er Maria kaum verstehen kann. Sie teilt ihm mit, dass sie einen Brief ohne Absender erhalten hat, der mit den Worten beginnt "Leben nach dem -". Das nächste Wort kann Maria nicht aussprechen, weil sich ihre Deutschkenntnisse auf einige wenige Autopilotsätze beschränken. Doch Michael hat bereits genug gehört. Kerzengerade sitzt er am Bettrand und fragt flüsternd: "The word - is it 'Käsebrot'?" Maria antwortet: "I think so. What does it mean?" Aber an der Hausmauer, auf die Michael seinen Blick gerichtet hat, flimmern schon wieder Buchstaben und so sagt er nur leise: "Don´t worry. I guess it´s just a joke. Good night." Ohne Marias Reaktion abzuwarten, drückt er kurzentschlossen die No-Taste und schaltet das Handy ab, damit er in Ruhe weiterlesen kann...

4. Umgang

Anna rast über den Stephansplatz, zum Meinl am Graben. An dem Abend, für den die Eröffnung des renovierten Lokals angekündigt war, ist sie mit Kurt hingekommen. Dunkel ist es im ersten Stock gewesen und durch die Schaufenster hat man nur gesehen, dass Arbeiter in Overalls herumgestanden sind. Anna und Kurt haben daher in einem anderen Restaurant gegessen und die Nacht wie gewöhnlich gedehnt.
Am Morgen hat sie ihn zur U-Bahn begleitet und ist, etwas später als sonst, in die Mauern der Stadthalle eingetaucht. Inzwischen nimmt Anna nicht mehr wahllos für jeden Gestalt an. Am überdimensionierten Adventkranz um die Säule in der Fußgängerzone leuchten bereits die flammenförmigen Spitzen aller vier Riesenplastikkerzen. Wie kompromisslos einem vermeintliche Behübschungen in der Adventzeit aufgedrängt werden, denkt Anna, während sie im Vorbeigehen die Zweige einiger Christbaumkandidaten befingert. Und: Wer kauft wohl seinen Weihnachtsbaum am Graben? Spielt eigentlich keine Rolle, findet Anna. Hauptsache, es stehen Baumgestalten mitten in der Stadt, die noch den würzigen Holzduft ausatmen. Sie liebt Bäume, und im Winter besonders Nadelbäume, die dann nicht nackt und trostlos (so nach Art der Laubgehölze) anklagend herumstehen, sondern das Grün stolz durch die kalte Jahreszeit tragen. Sie inhaliert lustvoll die Waldluftblasen und zieht an den Auslagen der Nobelboutiquen und der Juweliergeschäfte vorbei, auch an der Buchhandlung, in der Lena gearbeitet hat. Anna kennt sie alle. Vorbei an der Schreibwarenhandlung, deren Besitzer, Honorarkonsul einer lauwarmen Inselgruppe übrigens, der seine alkoholkranke Frau im Haus einsperrt, ihr für "
gewisse Gegenleistungen" eine Anstellung verschafft hätte. Dessen pferdegesichtige Tochter eine Modelagentur betreibt. Honorarkonsul! Anna hat die Stelle natürlich nicht angenommen, beziehungsweise auch keine "gewissen Gegenleistungen" erbracht.

Um ein Haar wäre sie jetzt mit einem Fiakerpferd zusammengeprallt, weil sie wieder einmal nicht in jene Richtung geschaut hat, in die sie geht. Anna guckt nämlich viel lieber nach oben oder zur Seite als nach vorne.
Ein weißhaariger Mann, dem eine hilflose Pfeife aus dem Mund ragt, rempelt Anna an, als er sich qualmend vorbeidrängt. Sie denkt an den Vater, an seine Stimme und daran, wie sehr sie als Kind den Geruch von Pfeifentabak gemocht hat. Immer noch mag. Sie geht hastig am Fotozubehörgeschäft vorbei, wo früher eine Buchhandlung war. Hier arbeitet Mark, der Pianist, dem Anna wiederholt den Zorn über misslungene Etuden aus dem Gesicht geküsst hat.
Vor den großflächigen Auslagenfenstern des Meinl angekommen, dreht sich Anna noch einmal um und genießt den Blick über den Platz und die Menschenansammlung. Der Abend des zwölften November, das Blinklichtermeer, fällt ihr wieder ein. Sie ist auf der Bühne gewesen, hat Franzobel umschwebt. Die angenehme Stimme des Schriftstellers ist ihr in Erinnerung geblieben. Sie hat ihre Lippen sanft in seinen Nacken gedrückt und mit Freude einen Hauch von Morgenröte in seinem Gesicht wahrgenommen. Dann die seltsame Aussage von Sandra Kreisler vernommen, man müsse sich entscheiden, ob man auf der Arschlochseite stehe! Da hat Anna die ungezogene Person ins Hinterteil gezwickt und ist zwischen den Pflastersteinen versunken.

Sie betritt das Geschäft. Eine Art Vorzimmer, von Sicherheitsleuten bestanden, vom asthmatischen Keuchen zweier Heizkanonen erwärmt, hastig durchschritten, durch die Schiebetür. Dahinter gestapelte Einkaufskörbe mit Ledergriffen an den Henkeln, reihenweise Einkaufswagerln, Kassen. Weiter, vorbei am Packtisch, hinein in die Skyline aus Süßigkeiten. Man könnte es beinahe rücksichtslos finden, einfach eine Tafel Weihnachtsschokolade vom kunstvollen Arrangement wegzunehmen. Ein Mann raunt seiner Begleiterin zu: "Wie in Rumänien." - was immer er damit sagen will, versickert im Geräuschpegel. Der bekannte Boxkampfkommentator Werner Schneyder erscheint im Geschäft. Einige grell geschminkte Frauengesichter wenden sich zu ihm hin, aufgeregtes Getuschel setzt ein. Herr Schneyder bahnt sich unbeeindruckt, eisbrechergleich seinen Weg durch das Getümmel.
Anna ist froh, einen Einkaufskorb, und kein Wagerl genommen zu haben. So ist sie doch entschieden wendiger. Auf der Suche nach irgendetwas scheint hier jeder zu sein, mancher jedoch offenkundig ziemlich erfolglos in seinem Bestreben, etwas Bestimmtes zu finden. Jedenfalls sehen manche Kunden regelrecht verloren aus. Die flimmernde Wechselbildfläche über der dunklen Holztreppe zeigt ein waches Kaminfeuer, an dem sich die fantasiebegabteren unter den Kassadamen - so es sie gibt -, die in Anoraks ihren Dienst versehen, bestenfalls optisch aufwärmen können. Als Anna unter dem Feuerbild steht, ist für einen kurzen Augenblick ein grünes Flackern in den Flammen zu sehen.
Der Liftboy, (ja, hier gibt es einen Liftboy in ballhausplatzsamtroter Uniform), hat es da schon ein bisschen besser als die frierenden Kassadamen, darf er doch in seiner warmen Glashauszelle zwischen dem Gewühl im Erdgeschoß und dem stickigen ersten Stock pendeln. Dort oben ist es recht düster, überhaupt sieht die Geschäftseinrichtung vorzeitig gealtert aus, und irgendwie extrem unpraktisch. Anna findet. Und was sie nicht findet, braucht sie eben nicht. So einfach ist das. Sie geht an der Käsetheke vorbei. Dort schlichtet gerade ein Mann, der eine schmutzige Schürze umgebunden hat, wüste Beschimpfungen murmelnd Käsestücke aller Gelbschattierungen in eine Vitrine. Nichts wie weg, denkt Anna, denn der Mann kommt ihr seltsam bekannt vor. Ja, auch er glotzt in ihre Richtung und sie starren einander einen umgekrempelten Moment lang an. Aber man kann sich ja nicht mit jedem Menschen streiten, der einen schief anschaut, und so dreht Anna um und kehrt zum Aufzug zurück.
Der weißhaarige Pfeifenraucher von vorhin schafft es gerade noch, sich mitsamt seinem Einkaufswagerl ebenfalls in die Kabine zu drängen und verkündet überflüssigerweise, er wolle "abwärts". Naja, eine andere Möglichkeit besteht ohnedies nicht. Anna verbeißt sich ein Lachen.
Unten angelangt, reiht sie sich in die Warteschlange vor einer Kasse ein. Eingebettet in eine gleichbleibende Geräuschkulisse aus Husten, Niesen, Schniefen, Räuspern und Gemurmel. Dann endlich bezahlen und kurzerhand das raschelnde Papiersackerl in Empfang nehmen, in welches eine Angestellte die Sachen verpackt hat. Das ist Luxus pur, denkt Anna zufrieden, als sie das Geschäft verlässt.
Nun zieht es sie zum Stephansdom zurück. Aber nicht, um die ehemals zwangsweise gewebten Gebetsklangteppiche auszurollen. Anna verbirgt sich mittlerweile zumeist hinter eigenen Formulierungen.
Da hat es vor langer Zeit zum einen den rotbärtigen Pater Bonifaz gegeben, bei dem niemand beichten wollte, zum anderen den blassgesichtigen Pater Paulus, der Anna im Beichtstuhl gefragt hat, ob noch viele Kinder draußen wären. Von der damaligen Beichte weiß Anna sonst nichts mehr. In der Volksprägung konnte man zusätzliche Sonderpunkte für freiwillig dazugeschriebene Gebete einheimsen. Später hat Anna dann jedenfalls nicht mehr am allgemeinen Bedürfnisunterricht teilgenommen. Sie hat sich lieber mit Schülern aus der Altkinderstufe in den Gängen aufgelöst. Der Bedürfnisprofessor hat ein paar Mal darauf bestanden, dass sie in der Klasse bleibt, was ihm Anna mit unbequemen Fragen vergolten hat. Und: unbequem sind den Allmachtsvermittlern grundsätzlich sämtliche Fragen zum Thema.
Anna denkt an den Bruder ihrer jadeäugigen Großmutter, der Dirigent war und von innen nach außen gestorben ist. Der hat als Kind zu einer Nonne gesagt: "Ein Schlag und du stehst im Hemd da. Noch ein Schlag und das Hemd steht allein da." Anna hat ihn nur ein einziges Mal lebend getroffen.
Sie ist beim Dom angelangt. Die braunen Vorhänge schlagen träge beiseite, als sie eintritt. Ihre Schritte hallen auf den Steinplatten. Anna lässt sich von einer Kirchenbank umarmen.

Damals, als Mark nach tagelangem Schweigen verschwunden war, hat Anna sich reinen Herzens gewünscht, einfach nicht mehr zu sein. Niemals wieder wollte sie verletzbar sein. Und manchmal gelingt ihr beides mittlerweile. Alles hat seine Zeit, so auch sie.
Mit einem Mal ist die Bank im Stephansdom leer, bis auf ein Papiersackerl. Ein kleines Mädchen stöbert darin und strahlt vor Freude, als es die Tafel Weihnachtsschokolade herausnimmt.

5. Ebbe

Das Telefon läutet. Heinrich reißt sich widerwillig vom Text los und hebt erst nach dem vierten Mal ab; es ist Sigrid. Sie ruft aus Bregenz an, wo sie die Nacht bei einer Freundin verbringt. Sie klingt gehetzt, als sie ihm das mitteilt. Heinrich ist insgeheim erleichtert darüber, sie sprechen zu hören, weiß aber nicht recht, was er sagen soll. Immerhin sind sie im Streit auseinandergegangen. Sigrid will wissen, was er denn so mache. Um einen gelangweilten Tonfall bemüht antwortet er: "Du, ich lese nur etwas, weil ich nicht schlafen kann." Es scheint ihm, als schmiege sich in diesem Moment der vollgekritzelte Block enger an seine Oberschenkel. Mit einer Handbewegung, als wolle er eine lästige Fliege verscheuchen, schubst er den Block, der noch körperwarm ist, von der Couch. Sigrid fragt nicht weiter nach, sie sagt ihm nur noch Gute Nacht, und dass sie in zwei, drei Tagen zurückkommen werde.
Heinrich ist plötzlich sehr müde als er auflegt. Er streckt sich auf der Couch aus und schläft augenblicklich ein.

Martin reibt sich die Augen, er blinzelt schläfrig. Für heute hat er genug vom Lesen, tappt durch den Vorraum ins Schlafzimmer und sackt auf dem Bett in sich zusammen. Im Halbschlaf flüstert er: "Lena? Anna?" In der Küche leuchtet ein grünes Augenpaar aus dem Monitor.

Die Lichtreklame erlischt und Michael bemerkt erst jetzt, wie weh sein Rücken tut. Er ist nach dem Gespräch mit Maria einfach sitzen geblieben. Jetzt ist sein rechtes Bein eingeschlafen. Michael streckt sich im Bett, soweit das möglich ist, ohne Luise dabei zu berühren. Er schaltet die Nachttischlampe ein. Luises rotblonder Zopf ist mit einem grünen Samtband zusammengebunden.
Michael ist in Gedanken bei der fremden Anna, als er endlich einschläft.

"Magst du auch ein Käsebrot?" Luise hält ihm ein Stück Toastbrot, belegt mit einer Scheibe Käse, vor die Nase. Wenn er etwas nicht leiden kann, dann dieses verdammte Gewecktwerden, noch dazu von einer sprechenden Käseduftwolke. Der Tag fängt ja gut an. Luise sitzt auf seiner Decke und beißt schmatzend vom Käsebrot ab. Michael dreht das Gesicht weg: "Nein, geh bitte. Wirklich nicht. Lass mich doch noch schlafen."
"Wie du willst. Aber du hast im Schlaf etwas von einem Käsebrot gemurmelt." Dann steht Luise auf und geht ins Bad. Michael wirft einen Blick aus dem Fenster. Die Hausmauer gegenüber ist so eintönig grau wie der Himmel. Schweigen.
Als Luise ruft, dass sie Zigaretten und die Zeitung holen geht, grunzt Michael nur und zieht die Decke über den Kopf. So bemerkt er nicht, dass Luise, bevor sie das Zimmer auf Zehenspitzen mit ihrer Reisetasche im Schlepptau verlässt, noch einige Zeit in der offenen Tür steht und mit gemischten Gefühlen zum Bett zurückschaut.

6. Entladung

Der 24. Dezember, Weihnachten. Es schneit nicht in Wien. Heinrich schaut aus dem Fenster. Er hat lange geschlafen, ist dann noch rasch einkaufen gegangen. Der Eiskasten ist jetzt randvoll mit Joghurtbechern, Käsestücken, Salatköpfen, Wurst und Fleisch für die Feiertage. Heinrich möchte Sigrid mit einem Festmahl überraschen, wenn sie am Wochenende zurückkommt. Er überlegt, ob er sie in Bregenz anrufen soll. Warum nicht! Er wählt die Nummer. Kurt, einer der Mitbewohner, meldet sich. Sigrid ist bereits weggefahren, und er soll ihm ausrichten, dass sie bald wieder in Wien sein wird. Heinrich wünscht Kurt ein frohes Fest, legt auf und lässt sich auf die Couch fallen. Wo ist nur dieser vollgekritzelte Block hingekommen, wundert er sich. Nach kurzer, erfolgloser Suche macht sich Heinrich auf den Weg zu seiner Mutter, wie jedes Jahr am 24. Dezember.

Dünnes Winterlicht dämmert in Martins Schlafzimmer. Er träumt, Lena zu umarmen, hört sie lachen. Sie drehen sich immer schneller, stehen mit einem Mal unerwartet still. Lena hält ihm die Augen zu und flüstert: "Wo ist Anna?" Martin bringt kein Wort heraus. Er kann Lenas Atem spüren, wickelt eine ihrer Locken um den Zeigefinger. Als Lena seinen Blick wieder freilässt, schaut er in ein grünes Augenpaar.
Martin schreckt im Bett hoch. Seine Nackenmuskeln schmerzen. Er dreht den "Continental Drift" von den Rolling Stones auf und geht unter die Dusche.

Michael hat stundenlang ferngesehen, und Luise ist noch immer nicht da. Wo sie nur bleibt? Schnapsidee, überhaupt herzukommen. Er wird abreisen, und zwar jetzt gleich. Er will nach Hause zu Maria. Schnell sucht er seine Sachen zusammen, zieht den Koffer unter dem Bett hervor und beginnt, einzupacken. Wie soll er Luise begreiflich machen, dass es aus ist? Vielleicht ein paar Zeilen aufschreiben? Ja. Er greift nach dem Zettel auf seinem Nachtkästchen und stutzt, als sein Blick darauf fällt: Lieber Michael, Du siehst ja selbst, es ist vorbei. Ich fahre heim. Ich wünsche Dir schöne Feiertage und alles Gute. Bitte ruf nicht mehr an. Luise.
Michael seufzt erleichtert. Doch er fühlt sich zugleich gedemütigt, weil nicht er zuerst gegangen ist. Egal, das Ergebnis zählt. Den Koffer schließen, Abgang.
Auf der Treppe stößt er mit einem Mann zusammen, der eine schmutzige Schürze umgebunden hat. "Wo ist sie?" herrscht der Fremde Michael an. Der fühlt seine Knie puddingweich einknicken: "Wer ?" Der Mann wischt seine Hände an der Schürze ab und zieht ein grünes Samtband, an dem einige rotblonde Haare hängen, aus der Tasche.
Nichts wie weg, denkt Michael und flüchtet zum Ausgang. Am Tor dreht er sich keuchend um: Der Mann ist verschwunden, die Schürze liegt auf den Stufen. Michael eilt ins Parkhaus, schleudert seinen Koffer ins Auto und fährt mit quietschenden Reifen davon. Die Straße glitzert eisglatt ...

Es klopft. Martin, ein Handtuch um die Hüften geschlungen, öffnet die Tür. "Deine Pizza." Er hat nichts bestellt. Die Lieferantin bemerkt sein Zweifeln: "Anna sagt -..." Sie lächelt schelmisch: "Also?"
Martin zieht sie wortlos ins Vorzimmer. Sie kichert und geht mit der Pizza in die Küche. Martin ist nicht nach essen zumute. Er schlingt die Arme um die Frau, seine Lippen erkunden einen Weg von ihrem Haaransatz über den Nacken, die Schultern, den Hals. Ihre Hände gleiten an seinem Bauch abwärts, das Handtuch fällt zu Boden. Mit halbgeschlossenen Augen landen beide auf dem Teppich, inmitten von zerknüllten Manuskriptseiten.
Das grüne Augenpaar auf dem Monitor über ihnen verliert sich im umgebenden Schwarz, während die Stimme Mick Jaggers noch mit den Worten "Love comes at the speed of light ..." den Raum flutet.

Ende

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