s. t.
                               



Ich sagte: „Nein, rufen Sie ihn nicht
mit dem Vornamen!“
Er sagte: „Gerade das hat er gern!“
Ich sagte: „Nein, klopfen Sie nicht an,
vielleicht ist er nicht daheim, und davor
hätte ich Angst!“ Vladimír Holan


Zwischen Nichts und Nichts. Die Hineingehaltenheit meines Seins in das Nichts sehe ich vor mir, ich sehe mich in der Schwärze der Nacht, ich bin weiß und leuchte in die Nacht beim Öffnen der Raumtür, ich weiß nicht, tu ich das selber oder geschieht es mir, Hülle, Gefäß, durch das Baupläne hindurchfließen, die sich in unendlichen Variationen bilden, in unendlichen Zeiten, wo das Sein, ich habe keine Ahnung, was das ist, unmerklich verrutscht, ich bin vorübergehendes Resultat der Ursachen, die im Verwerfungsgeschiebe herausspringen, so ein Schub des Seins ist das, was mich bewirkt, Zerbröselung größerer Einheiten, Teilung und Aberteilung, fein gemahlen zwischen Materie und Antimaterie, klar, das merke ich nicht gleich, aber ich fülle mein Bewusstsein mit Welt, ich spüre mich immer genauer, reibe mich im Wind der Strukturen – erlebe das Hineinhalten meines Daseins in das Nichts, ich fühle es, es stimmt, ich bin, und was habe ich denn sonst?, ich steh hineingehalten ins Nichts, fühle mich hingehalten, bis sich die Seiten verkehren, werde zum Nichts und um mich herum der Grund meiner Angst, der immer stabiler wird, mein Nest, meine Heimat, die ich nicht suchte, die mir geschenkt wird ohne mein Zutun, ganz einfach so, und wenn ich mich, so hineingehalten ins sich umstülpende Nichts, verwandle, dann – ich frage Sie, wenn Sie mich dann noch hören: Ist das wirklich die Transzendenz? Meine ganz eigene, nur mir gehörende Transzendenz, wenn ich mich selbst bestiegen habe ein Leben lang, bis ich oben angekommen bin bei mir und auf meinen Schultern stehe und in die Spalten des Nichts greife, ohne Seil und Netz, und bald über mir stehe und auf mich herabsehe, ist das meine Transzendenz? 

Und wie ich mich so über mir entferne, weiß ich schon gar nicht mehr, wo ich bin, sehe ich zu mir hinauf, oder sehe ich von oben auf mich herab, wie ich da unten stehe, so hell ins Schwarze hineingehalten, aber woher kommen die Farben, das Licht. Ich stehe über mir und müsste doch fliegen oder wenigstens schweben, so ohne Halt im Hineingehaltensein über dem Grund meiner verborgenen Angst, ich kann fallen, stürzen, meine Fallhöhe wächst, je mehr ich mich von mir entferne, egal, ob ich mich von unten oder von oben sehe. Denn unter mir und über mir ist ja der riesige nach allen Seiten geöffnete Grund der Angst, der sich mir öffnet, mit dem ich fertig werden, über den ich gehen lernen muss, den ich mir einverleiben will, den ich wieder aus mir heraus werfe wie ein selbst geknüpftes Netz, in das ich aber falle, wenn ich jetzt einfach gehe, ich darf ja nicht gleich rennen und springen. Was sagen Sie da? Ich soll wieder zurück? Ich habe mich vor dem Danach verlassen, um meinen Grund zu finden, nun bin ich nach dem Davor angekommen. Ich habe das Seiende im Ganzen überstiegen,
da gibt es kein Zurück mehr. Ich rede nicht vom Tod. Noch nicht. Ich sehe mir zu bei meinen Geburten.

In die Tastatur stoße ich meine Stirn und schreibe die Lieder, in denen ich wohne, unter meinen Fingern stirbt der Tod.

Kein Tod ist stärker als meine Stadt, die ich baue. Wenn er durch die Ritzen meiner Tore dringt, werfe ich ihn raus mitsamt dem Müll meiner Angst.

Die schwarzen Kühe der Nacht. Als ich ein Kind war, da sangen und sprangen wir in die mit Kreide auf blauen Asphalt gemalten Kästchen zwischen Himmel und Hölle: Kaiser König Edelmann – Bürger Bauer Bettelmann ... Hein der Schnitter – Feiner Flitter – Rein und bitter – Kleiner Splitter – Allein ich zitter – Vor Pein und Gewitter – Hein du Schnitter... Ellerli Sellerli Sigerli Sa – Ribedi Rabedi Knoll ... Rote Kirschen ess ich gern – Schwarze noch viel lieber – Auf den Friedhof geh ich gern – Alle Tage wieder – Hier wird Platz gemacht – Für die jungen Damen – Saß ein Kuckuck auf dem Dach – Hat der Regen nass gemacht ... Wir haben einen Tod – Der singt so lieblich – Singt sogar – Wie ein Star – Hat gesungen sieben mal sieben Jahr ...
Wir wussten nicht, was wir da sangen. Die Worte waren nur ein Spiel, alles war Spiel, Streit und Wiedervertragen, Schmusen und Beten im Bett, auch Traurigsein war ein Spiel, wenn wir es ausdehnten bis zum Genuss, dass wir traurig wurden, wenn wir nicht mehr traurig sein konnten. Die Zeit stand still. Der Tag war Ewigkeit. Ungefärbt war mein Gemüt. Als wir älter wurden, da starben wir zum ersten Mal, und es war uns nur halb bewusst, wie sie den Himmel vor unseren Augen wegzogen.

Ach, dein schweres Herz (so voller Angst) kann keiner wiegen. Wär’ leer dein Herz (um das du bangst), könntest du fliegen.

Ich aber sage mir: Eene meene Mu – Und raus bist du – Raus bist du noch lange nicht – Sag mir erst, wie alt du bist... 

Wenn ich ihn morgen in der Stadt sehe, rufe ich ihm zu: Guten Tag, Herr Geheimrat, Sie sind dran! Und dann fallen ein paar Lichtstrahlen vom Himmel durch die Luft und malen dem Tod ein paar Knochen zum Fraß auf den großen Platz vor der Universität. Aber das ist nur so eine Idee.

Es gibt viele Tote, aber wenige Auferstehungen.

Ich beobachte meinen Schatten und stelle mir vor, wie ich zu ihm sage: Du störst mich. – Er antwortet: Du störst mich noch viel mehr. Ich bin dein Gefangener. Gib mich frei. – Wie soll das geschehen, frage ich ihn. – Er sagt, friss mich auf. – Davon werde ich nicht satt, sage ich, da kann ich dich auch leben lassen. 

Der Wahnsinn schlummert in jedem von uns, er tritt hervor, wenn Geist und Gemüt ohne den sanften Einfluss der Seele sind. Dann bricht das Dunkle hervor zum schreckenden Zeichen, und der Mensch, an dem er sich Bahn bricht, ist ihm ausgeliefert. Unter der zerbrechlichen Oberfläche verständigen Denkens und Wollens ruhen dunkle Kräfte, die durch heftigen Schmerz oder ähnlich erschütternde Emotionen angestoßen werden. Lebendiger Verstand ist nichts anderes als geregelter Wahnsinn. 

Mein Schatten lässt mich nicht los. Er starrt mich an, ich fühle es. Du bist mir ein zu dunkler Spiegel, sage ich, du störst mich schon wieder. – Ich weiß, sagt er, wenn du stirbst, bist du mich los. – Den Gefallen tu ich dir nicht, sage ich. – Trennen wir uns, sagt mein Schatten, du wirst mir schon nicht fehlen. – Es ist grotesk, sage ich, aber wenn ich stürbe, würdest du mir fehlen.

Ich träume nur von Schatten. „Wer ist der dunkle Schatten?“, frage ich mich. „Ich weiß nicht“, antworte ich mir, „vielleicht ein Lichtgespenst.“ „Ich sah ihm in die Augen!“, sage ich. „Das bedeutet nichts.“ „Ich spüre ihn“, sage ich, „auch wenn ich keine Angst habe.“ „Vielleicht ist es der Schatten selbst; wenn er sich begreift, leuchtet er“, sage ich mir. „Nein“, sage ich. Wir sehen uns an und schweigen. Ich schließe die Augen. „Schschsch…!“ „Du spielst mit mir!“ „Schschsch … ich hab’s. Es ist der Schiedsrichter deiner Lebensspiele“, sage ich, „der mehräugige Zeuge, der immer da ist.“ „Was soll das sein?“ „Du musst dich selber lesen“, sage ich mir. „Gut“, sage ich und schließe die Augen, „ich will die Zunge entschlüsseln.“ „Die Zunge?“ „Ja“, sage ich, „alle Bilder haben Zungen.“

Ahnung. Ich gehe durch meinen Schlaf wie durch eine Wohnung, die mir bekannt und unbekannt zugleich vorkommt – links vor mir im Gegenlicht Grandmère, da steht sie im Türrahmen, hinter ihr die alten Möbel, ein Fenster. Ich sehe deutlich ihr Gesicht, die guten Augen schauen mich an, ihr kleiner Körper beugt sich leicht vor. Wir gehen ins andere Licht. In eine andere Zeit? In einen anderen Raum. Grandmère Louise geht zur Chaiselongue im helleren Zimmer, legt sich hin, deckt sich zu und sagt: Ich bin müde. Ich lege mich zu dir, sage ich, dann sterben wir zusammen.


(Ulrich Bergmann)