Versperrter Fluchtweg



Als ich zum Frühstück den Eß-Saal des Hotels betrat, saßen unsere Tischnachbarinnen, Michelle und Konstanze, bereits an ihren angestammten Plätzen. Uta schaute mich mit der stummen Frage an, als ob sie wissen wollte: „Gab es etwas besonderes?“

„Es gab sieben gewöhnliche Anrufe“, sagte ich, „aber der achte war von Aisha. Du weißt ja, daß ich sie halbwegs verstehen kann, wenn sie mir gegenüber steht. Aber am Telefon kann ich ihr Kauderwelsch überhaupt nicht entziffern. Sie lebt seit so vielen Jahren in Deutschland, kann aber immer noch kein Deutsch. Und ihr afrikanisches Englisch oder sudanesisches Arabisch verstehe ich einfach nicht. Soweit ich mitbekommen habe, sprach sie von einem Notfall, mit dem sie nicht fertig werden kann. Vielleicht braucht sie unsere Hilfe. Ich habe sofort zurückgerufen, habe aber nur die Ansage der Telefongesellschaft gehört: „Kein Anschluss unter dieser Nummer.“ Bis zu unserer Abreise hatte sie doch die gleiche Nummer gehabt. Du selbst hast sie angerufen und ihr gesagt, daß wir für vier Wochen ins Ausland fahren wollen. Es kann ja sein, daß sie inzwischen umgezogen ist. Aisha ist für jede Überraschung gut.“

„Du bist auf sie einfach nicht gut zu sprechen, “ sagte Uta sichtlich verärgert. „Mal missfällt Dir ihr Deutsch oder es sind ihre Kleider, die Du nicht ausstehen kannst, oder Du kannst ihre Leibesfülle nicht ertragen. Weiß Gott, was sie Dir angetan hat, daß Du sie so verfolgst. Sie ist eine bemitleidenswerte Frau. Wer weiß, womit sie jetzt zu kämpfen hat?“

Diese Sache trug sich in der Zeit unserer Reise nach Armenien zu. Wir riefen ein- oder zweimal wöchentlich zuhause an und hörten die aufgezeichneten Anrufe ab. Im Falle einer Notsituation hätten wir die Nachbarn verständigen können, die die Sache in Ordnung bringen würden. Aber mir fiel nicht ein, was im Falle Aishas getan werden konnte. Niemand von unseren Freunden kannte sie. Daher war es nicht möglich, jemanden zu bitten, nach ihr zu schauen.

Uta hatte aus den fragenden Blicken von Michelle und Konstanze herausgelesen, daß sie in dieser Sache etwas Näheres sagen müßte. Die ach so zivilisierten Deutschen  fragen ja nichts direkt. Aber wer ihre Blicke lesen kann,  weiß, daß vor lauter Neugierde ihnen das Wasser im Munde zusammenläuft.

Aisha stammt aus dem Sudan. In Deutschland hatte sie Asyl beantragt. Sie gehört einer modernen islamischen Sekte an, die von der sudanesischen Regierung aus dem Islam ausgegrenzt worden war, und damit wurden ihre politischen und sozialen Rechte eingeschränkt. Daher waren deren Anhängern nur zwei Möglichkeiten offen geblieben: die Sekte zu wechseln oder das Land zu verlassen. Viele mußten aus Not zu anderen Sekten konvertieren. Aber Aisha zog es vor, ins Ausland zu gehen.

„Aisha ist unsere Putzfrau“, erzählte Uta den Tischnachbarinnen, „die sich selber im Wege steht. Sie ist auf Schritt und Tritt mit Schwierigkeiten konfrontiert, aber ihr religiöser Wahn steigert sich mit der Zeit, statt sich zu legen.“

Seit einiger Zeit ist es in Deutschland schwieriger geworden, Hauspersonal zu finden. Früher waren deutsche Frauen bereit, für ein paar Stunden die Hausarbeit zu übernehmen. Sie zogen das sogar anderen Jobs vor, mussten sie doch keine Steuern zahlen, da die Anmeldung beim Arbeitsamt nicht erforderlich war. Außerdem behielten sie so ihre Unabhängigkeit. Man konnte solche Jobs jederzeit formlos kündigen. Dagegen war es schwieriger, bei einer Institution oder in einem Laden zu jobben. Die Gesetze mußten eingehalten und Steuern und Sozialabgaben entrichtet werden. Am Ende blieb nur noch ein Taschengeld übrig. Aber seitdem das Gesetz in Bezug auf Jobs geändert und festgelegt wurde, daß bis zu einer bestimmten Obergrenze die Löhne steuerfrei bleiben, ist es schwieriger geworden, deutsche Frauen für die Hausarbeit zu gewinnen. Dafür bekommt man nur noch Ausländerinnen, die Asyl beantragt haben oder solche, die sich illegal in Deutschland aufhalten und deshalb kein Arbeitserlaubnis besitzen.

Drei Frauen hatten sich auf unsere Anzeige in der Zeitung gemeldet. Die erste stammte aus Polen und war mit einem Visum für drei Monate eingereist, dessen Frist abgelaufen war. Sie wohnte inkognito bei einem Freund. Als Uta dies hörte, lehnte sie sie sogleich ab, weil sie in die Sache nicht verwickelt werden wollte.

Die zweite Frau war aus Rumänien. Sie arbeitete in einer Fabrik und wollte nur am Wochenende jobben. Man merkte aus ihren Schilderungen, daß sie eine sehr wendige Frau war. Uta befürchtete, sie könnte mit den Zigeunern aus ihrer Heimat in Kontakt haben, die häufig Hauseinbrüche verübten. Es hatte zahlreiche Fälle gegeben, in denen Haushaltshelferinnen den Einbrechern  die  Reisepläne der Hausbesitzer verraten und sogar sie darüber informiert hatten, welche Kostbarkeiten sich im Haus befanden. In einigen Fällen erhielten Einbrecher sogar Hausschlüssel von ihnen ausgehändigt, was den  Einbruch erheblich vereinfachte. In jenen Tagen gab es eine interessante Begebenheit, über die die Zeitungen berichteten. Diebe waren dabei, aus einem Haus in Abwesenheit der Hausbesitzer wertvolle Teppiche fortzubringen. Dem Nachbarn erzählten sie auf seine Nachfrage, sie seien Angestellte einer Teppichwäscherei und zur Abholung der Teppiche gekommen. Der Nachbar sagte, dies sei eine gute Gelegenheit. Auch er wollte seinen Teppich reinigen lassen. So gab er ihnen seinen wertvollen Teppich freiwillig mit. In Anbetracht solcher Berichte wollten wir keine Rumänin bei uns einstellen.

Der dritte Anruf war von Aisha, die wir am Telefon überhaupt nicht verstehen konnten. Nur so viel, daß sie aus dem Sudan stammte und sich erst seit kurzem in Deutschland aufhielt. Wir schlugen vor, sie sollte uns am Sonntag besuchen, damit wir sie in aller Ruhe kennenlernen könnten. Sie wohnte in einer entlegenen  Ecke der benachbarten Stadt Hamburg.  Ich erklärte ihr, daß sie mit der U- und S-Bahn bis zu unserem Dorf mindestens zwei Stunden brauchen werde. Das war ihr  egal, wenn sie nur die Stelle bekommen könnte. Uta machte den Vorschlag, daß wir unhängig davon, ob wir sie nähmen oder nicht, ihr in beiden Fällen die Zeit der Hin- und Rückfahrt sowie des Vorstellungsgespräches entlohnen würden. Darüber war sie glücklich und versprach sich am Sonntag pünktlich um 9 Uhr am Pinneberger Bahnhof einzufinden.

Ich fuhr zum Pinneberger Bahnhof, um sie abzuholen. Von dort aus fährt ein Bus zu unserem Dorf. Aber am Sonntag fährt er morgens nicht. Es war übrigens nicht schwer, Aisha zu erkennen. Sie war die einzige Afrikanerin, die an jenem Morgen aus dem Zug stieg. Als ich ihre wohlbeleibte Figur aus der Ferne sah, konnte ich mir nicht vorstellen, daß sie bei der Arbeit flink sein würde. Ich glaubte sogar aus ihrer Gehweise zu erahnen, daß sie womöglich Schwanger war, denn sie zog die Füße ein wenig nach. Ich konnte ihr Alter nicht einschätzen. Wenn man ihr Gesicht betrachtete, schien sie zwanzig oder vielleicht fünfundzwanzig zu sein. Aber in ihren sudanesischen Kleidern, für die viele Meter Stoff benötigt werden, schien sie älter zu sein. Als sie näher gekommen war, mich begrüßte und ihre weißen Zähne leuchteten, sah ich in ihr Antlitz die Züge eines jungen Mädchens. Ich begrüßte sie und sagte ihr, daß zu Hause das Frühstück auf uns wartete. Sie sagte, sie sei ohne zu frühstücken aus dem Haus gerannt, weil sie pünktlich sein wollte. 

Während der Fahrt sprachen wir nicht viel. Es war ohnehin Utas Aufgabe, sie zu interviewen und darüber zu entscheiden, ob sie die Arbeit bekommen würde oder nicht. Im Allgemeinen halte ich mich aus solchen häuslichen Angelegenheiten raus. Aber ich wollte doch zumindest wissen, wo man sie untergebracht hatte und ob sie damit zufrieden war. Asylbewerber bekommen Miete ausbezahlt, wenn sie selber für ihre Unterbringung sorgen. Ansonsten wird ihnen eine Unterkunft zugewiesen. Darüber hinaus erhalten sie von der Sozialbehörde einen monatlichen Zuschuß zum Lebensunterhalt. Aisha sagte, sie komme damit gut zurecht. Allerdings lebten im Sudan  ihre betagten Eltern, die auf finanzielle Unterstützung durch sie angewiesen waren. Sie suchte deshalb einen Job, um den Eltern etwas Geld zukommen zu lassen. Aber infolge mangelnder Deutschkenntnisse hatte sie bisher keine Stelle gefunden. Sie hoffte, daß wir sie nicht im Stich lassen würden.

Aisha war seit drei Monaten in Deutschland und ihr Asylverfahren steckte noch in der Anfangsphase. Ihr Rechtsbeistand war allerdings überzeugt, sie würde Asyl erhalten. Denn die sudanesische Regierung hatte aus politischen Erwägungen heraus die Gruppe der„al-Ichwan al-Dschamhuriyyun“ aus dem Islam ausgegrenzt  und offiziell verboten. Man hatte den Begründer Ustas Mahmud Muhammad Taaha wegen angeblichen Abfalls vom Islam zum Tode verurteilt und aufgehängt. Sudans Präsident Dscha’far an-Numeiri hatte dies getan, um die eigene Regierung, die im Land unpopulär geworden war, vor dem Fall zu retten. Abgesehen davon, daß ihm dies auch nichts genützt hatte und seine Regierung bald darauf durch das Militär gestürzt worden war.

Uta war von Aishas Geschichte sehr angetan und stellte sie an, obwohl sie wußte, daß Aisha keine Erfahrung mit dem Saubermachen in europäischen Haushalten hatte. Ich war einwenig überrascht, sagte aber kein Wort. Die Verhandlung fand zwischen den beiden statt und nur sie konnten darüber entscheiden. Ich wurde ohnehin am Putztag aus dem Haus fortgeschickt, weil man mich wie ein überaus hinderliches Sofa im Weg der Putzfrau empfand.

Aisha nahm ihren Job sehr ernst und fehlte niemals. Allerdings war ihre Arbeitsweise einzigartig. Es begann damit, daß sie im Rundfunk ein Musikprogramm aussuchte und sofort alle ihre Körperteile zu tanzen anfingen. Die Natur hat den Afrikanern eine Begabung zum Tanzen mitgegeben. Selbst wenn man ein kleines afrikanisches Kind tanzen sieht, muß man neidlos zugeben, daß es Tanzen mit der Muttermilch eingesogen haben muß. Aishas Füße bewegten sich mit dem Rhythmus der Musik derart mühelos, als hätten sie kein schweres Gewicht zu tragen. Stets tänzelte sie im Haus herum und manchmal sang sie wie in Trance sudanesische Lieder. Sie hatte eine melodische Stimme, die uns sehr gefiel.

Da ihr Weg zu uns sehr weit war, hatten wir es so eingerichtet, daß sie an dem Tag, an dem sie zum Putzen kam, mit uns frühstückte und auch das Mittagessen einnahm. Von der Stadtverwaltung war ihr in einem zweistöckigen Haus ein Zimmer zugewiesen worden. Dort lebten  bis zu zwanzig Personen aus verschiedenen Ländern, die ihre Heimat infolge Arbeitslosigkeit oder aus anderen Gründen verlassen mußten. Im Allgemeinen lebten sie alle einträchtig miteinander. Nur zwischen zwei arabischen Familien gab es Zwietracht. Die eine Familie entstammte aus Palästina, die lange Zeit vor der Einreise nach Deutschland in Beirut als Flüchtlinge gelebt hatte. Die zweite Familie war christlich und kam aus dem Libanon. Sie hatte ihre Heimat wegen des Bürgerkriegs verlassen müssen. Aisha war mit beiden Familien befreundet. Die arabische Sprache war der gemeinsame Nenner. Aber es lebten dort auch Afrikaner aus Ghana und Sierra Leone, die von Aisha als Heroinhändler verdächtigt wurden. Das Haus wurde wegen dieser Leute zweimal von der Polizei durchsucht. Aisha wollte schnellstens von dort ausziehen, weil einige Afrikaner ihr nachzustellen begonnen hatten. Sie befürchtete, sie könnte eines Tages sexuell belästigt werden. Sie schloss sich ständig in ihrem Zimmer ein. Eine derartige Angst vor Männern hatte sie in ihrer Heimat niemals empfunden.

Und dann geschah genau das, wovor Aisha von Anfang an Angst gehabt hatte. Eines Nachts, als sie schlief, öffnete jemand ihre Tür mit einem Hauptschlüssel und überwältigte sie noch bevor sie aufwachte. Man klebte ihr den Mund und die Augen mit einem Pflaster zu. Und derart außer Gefecht gesetzt, wurde sie brutal vergewaltigt. Der Überfall dauerte die ganze Nacht. Keiner aus den benachbarten Zimmern bekam mit, was Aisha zu erleiden  gehabt hatte. Erst gegen Morgengrauen ließ der Vergewaltiger von ihr ab und drohte, noch bevor er das Zimmer verließ, er würde sie umbringen, sollte sie zur Polizei gehen.

Am nächsten Tag sollte Aisha zu uns kommen. Aber sie kam bis zum Mittag nicht und schickte uns auch keine Nachricht. Uta rief an und erfuhr, daß irgendetwas Schreckliches vorgefallen war. Uta wollte Näheres wissen, worauf Aisha lauthals zu weinen begann. Es war klar, daß wir selber zu ihr hingehen müßten. Uta sagte ihr, sie solle unbedingt zu Hause bleiben, da wir auf dem Weg zu ihr seien.

Durch unser Kommen faßte Aisha Mut und erzählte, was passiert war. Aber sie wollte auf gar keinen Fall zur Polizei gehen. Sie befürchtete, der Verbrecher werde sie tatsächlich umbringen, da er ja den Hauptschlüssel besaß. Uta meinte, diese Sache sei leicht zu lösen. Wir würden das Schloss ihres Zimmers auswechseln lassen. Das veranlasste ich umgehend. Wir bestanden darauf, zur Polizei zu gehen. Ansonsten würde der Verbrecher sich gestärkt fühlen. Wir erfuhren indirekt, daß sie einen Ghanesen verdächtigte. Zwar hatte sie das Gesicht des Vergewaltigers nicht gesehen, sie hatte aber seine Stimme erkannt, als er sie drohend davor warnte, zur Polizei zu gehen.

„Dann sollten wir nicht länger zögern. Wir gehen mit Dir zur Polizei und wenn Du willst, lassen wir einen Rechtsanwalt kommen“.

Uta war die Sache sehr ernst. „Aber würde ich nicht im Falle einer Schwangerschaft den Vater meines eventuellen Kindes der Polizei ausliefern?“ Vielleicht hatte Aisha ja die Hoffnung, der Mann würde sie doch noch heiraten.

„So ein Vater ist verdammungswürdig,“ sagte Uta: „Heute bist Du in seine Fänge geraten, morgen könnte eine andere unschuldige Frau sein Opfer sein.“ 

Die Polizei nahm den Vorfall auf und bestellte alle männlichen Bewohner des Hauses auf die Wache. Aber ich hatte den Eindruck, daß man dort der Sache keine besondere Bedeutung beimaß. Ein Polizist sagte sogar hinter Aishas Rücken, in Sachen Sex würden doch alle Afrikaner unter einer Decke stecken. Und es sei auch durchaus möglich, Aisha habe den Verbrecher selber dazu ermuntert.

Es geschah genau das, was wir befürchtet hatten. Die Polizei ließ mehrere Wochen verstreichen und stellte das Verfahren mit dem Hinweis ein, ein Beschuldigter könne nicht ermittelt werden.

Einige Zeit später sagte Aisha zu Uta, sie sei tatsächlich schwanger und auf gar keinen Fall bereit, das Kind abtreiben zu lassen. Ihre Religion würde dies verbieten. Außerdem sei das ungeborene Kind an der Sache gänzlich unschuldig.

Wir wußten, daß wir nicht berechtigt waren, uns in diese Sache einzumischen. Aber man sah deutlich, daß dadurch Aishas Probleme nur noch zunehmen würden. Sie würde  lediglich noch ein paar Monate weiterarbeiten können. Danach würde sie genauso wie die anderen ledigen Mütter die ganze Zeit für ihr Kind da sein müssen. In unseren Augen lebte Aisha im Paradies der Ahnungslosen. Der Vater ihres Kindes hatte nicht erkennen lassen, daß er sie heiraten wollte. Trotzdem machte sich Aisha Illusionen.

Ihr Kind, dem sie den Namen „Haashim“ gab, wurde kurz vor unserer Abreise nach Armenien geboren. Uta kaufte für das Kind Geschenke und Kleidungsstücke. Aisha war sehr glücklich, grämte sich aber wegen des Umstandes, dass ihr Sohn ohne Vater geboren wurde. Sie sagte, man hätte darüber hinwegsehen können, wenn es aus Liebe gezeugt worden wäre. Auf der anderen Seite wußte sie auch, daß unter den Arabern aus alten Zeiten der Aberglaube existiert, wonach aus einer Vergewaltigung  hervorgegangene Kinder besonders tapfere Krieger sind.

In Utas Augen war Aisha eine sehr tapfere aber zugleich überaus dumme Frau. Tapfer, weil sie für ihr Kind alles zu opfern bereit war. Und dumm, weil ihre Ansichten absolut nicht praktikabel waren. Ihre Schwierigkeiten waren auch ohne ein Kind enorm. Mit dem Kind würden sie sich um Vielfaches vermehren. Wir hatten ihr gesagt, sie könne sich ohne weiteres an uns wenden, wenn sie Hilfe bräuchte. Uta bedauerte sehr, daß wir für sie aus Armenien, wo wir noch eine ganze Woche bleiben wollten, nichts tun konnten. Es war uns einfach nicht vorstellbar, in welcher Notsituation sie sich befand.

Endlich ging die letzte Woche unserer Ferien zu Ende und der Tag der Rückkehr nahte. Uta hatte die sieben Tage wie auf glühenden Kohlen verbracht. Im Flugzeug bekamen wir nach vier Wochen wieder deutsche Zeitungen zu Gesicht. Bekanntlich hält sich im Sommer fast die Hälfte der Bevölkerung im Ausland auf. Sogar das Parlament macht Sommerferien und stoppt die parlamentarische Arbeit. Große und kleine Beamte halten sich im Ausland auf und jegliche politische Betätigung kommt zum Erliegen. In Deutschland nennt man diese Tage „Saure Gurkenzeit“, weil ein Mangel an Nachrichten herrscht und selbst solche Ereignisse, die gewöhnlich keinen Platz in einer Zeitung finden, es in diesen Tage sogar mit fetten Überschriften auf die Titelseiten schaffen. In den meisten Zeitungen befanden sich Kommentare über die gestörten Beziehungen zwischen den In- und Ausländern. Die Journalisten müssen ja irgendwie ihre Kolumnen voll kriegen.

Wir kehrten am Abend nach Sonnenuntergang zurück. Um diese Zeit konnte man mit niemandem in der Behörde sprechen, und unter Aishas Telefonnummer lief nach wie vor die Ansage: „Kein Anschluß unter dieser Nummer.“ Uta meinte, wir sollten am nächsten Tag selber dorthin fahren, um zu erfahren, wohin Aisha verschwunden war und warum ihre Telefonverbindung gekappt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt wußten nicht einmal unsere Engel, was für eine üble Nachricht vor Ort auf uns wartete.

Als wir am nächsten Morgen dort ankamen, fanden wir den Weg zu Aishas Haus versperrt vor. Wir parkten den Wagen in einer benachbarten Straße und gingen zu fuß in die Straße, in der das Haus lag. Aishas Haus war komplett abgebrannt. Es stand nur noch ein Gerippe von Mauern, vor der sich ein Polizeiwagen quergestellt hatte. Auf unsere Nachfrage sagte ein Polizist, das Haus sei vor zehn Tagen abgebrannt. Über die Opfer sagte er lediglich so viel, es habe einige Tote und Verletzte gegeben. Für nähere Angaben sollten wir bitte uns an die Polizeidirektion wenden.

Dort ließ man uns wissen, daß Aisha im Krankenhaus lag, weil sie aus Angst vor dem Feuer aus ihrem Zimmer im ersten Stockwerk gesprungen war und sich dabei beide Beine gebrochen hatte. Sie hielt ihr Kind in den Armen, das erstaunlicherweise keine schweren Verletzungen davongetragen und überlebt hatte. Aber Aishas Zustand war in den ersten Tag sehr besorgniserregend gewesen.

Wir fuhren sofort zum Krankenhaus. Aisha ging es inzwischen besser. Die Operationen waren an beiden Beinen erfolgreich gewesen und sie konnte auch schon ein wenig laufen. Sie freute sich über unser Kommen. Sie hatte drei Tag nach dem Unglück bei uns angerufen, aber vergessen, die Nummer des Krankenhauses zu hinterlegen. Sie war froh darüber, daß ihr Sohn Haashim auf wundersame Weise nur leicht verletzt worden war.

Sie erzählte, daß sie in der Feuernacht durch den Rauch aufgewacht war. Als sie die Zimmertür aufschloß, um durch den Korridor zu flüchten, waren dort die Rauchschwaden so dicht, daß sie nichts sehen konnte und ihr auch das Atmen schwer fiel. Deshalb ging sie in ihr Zimmer zurück und schloß die Tür hinter sich.

„Der Tod tanzte vor meinen Augen,“ sagte Aisha in einem aus Arabisch und Deutsch gemischten Satz und mit wilden Handgesten. „Ich nahm geschwind Haaschim auf den Arm, drückte ihn an meine Brust und sprang aus dem Fenster.“

Die diensthabende Krankenschwester erzählte, daß Aisha glücklicherweise auf einen Rhododendrenbusch gefallen war, dessen Zweige ihren Fall gebremst hatten. Sonst wäre sie unter ihrer eigenen Körperlast zerquetscht worden. Sie hielt das Kind am Körper so fest, daß es nicht auf die Erde fiel. Somit blieb es fast unverletzt.

Insgesamt zehn Personen wurden verletzt und vier verbrannten lebendigen Leibes. Unter den Verstorbenen war auch der junge Mann aus Ghana, der nach Aishas Aussage sie überfallen hatte. Ein Junge der libanesischen Familie wurde getötet, wogegen alle Mitglieder der palästinensischen Familie überlebt hatten.  Keiner von ihnen wurde verletzt. Ein Junge aus dieser Familie, Amin mit dem Namen, war rechtzeitig aufgewacht, hatte die übrige Familie geweckt und sie alle vor dem Feuer retten können. Er leistete auch bei der Rettung anderer Hausbewohner vorbildliche Arbeit. Die Polizei hatte ihn in ihrem ersten Bericht besonders lobend erwähnt. Aber am nächsten Tag sagte ein Mitarbeiter des Roten Kreuzes aus,  Amin solle ihm gegenüber beim Transport der Verwundeten ins Krankhaus gesagt haben, „wir“ hätten das Feuer gelegt.

Darauf angesprochen wurde, sagte Amin, er habe nicht vom Feuerlegen gesprochen. Er sagte lediglich, daß „sie“ das Feuer gelegt haben müssen. Damit hatte er die Faschisten gemeint, die in Deutschland als Neo-Nazis wieder von sich reden machen. Aber der Staatsanwalt wollte davon nichts wissen. Er verdächtigte Amin und ließ vom Richter die Festnahme bestätigen. Weitere Nachforschung stoppte er gänzlich.

Die Bewohner des Hauses sagten aus, daß es im Allgemeinen keine Streitigkeiten zwischen den Hausbewohnern gegeben hatte. Es stimmte zwar, daß zwischen der libanesischen und der palästinensischen Familie ein Zwist existierte, aber nicht von der Art, daß sie sich gegenseitig nach dem Leben getrachtet hätten. Die Frage danach, warum sämtliche Mitglieder der palästinensischen Familie überlebt hatten und keiner von ihnen auch nur verletzt worden war, blieb unbeantwortet. Dagegen war ein Junge der libanesischen Familie verbrannt. Der Staatsanwalt fragte, ob dahinter vielleicht eine Planung steckte.

Inzwischen fanden Journalisten heraus, daß die Polizei in der Brandnacht vier faschistische junge Männer in der Nähe des Tatortes überprüft hatte, die um drei Uhr in der Frühe ein Automobil schoben, weil ihnen das Benzin ausgegangen war. Sie waren auf der Suche nach einer offenen Tankstelle. Die Polizisten hatten in ihrem Bericht notiert, daß die vorderen Haarlocken bei dreien von ihnen samt Augenbrauen verbrannt waren. Man lies sie weiterziehen, nachdem sie ihre Personalausweise vorgezeigt hatten. Der Staatsanwalt hatte es nicht für nötig erachtet, sie unter die Lupe zu nehmen. Auch dann nicht, als einer von ihnen einem Journalisten gegenüber gestand, daß sie in die Sache mit dem Feuer im Asylantenheim verwickelt waren.

Genau ein Jahr nach dem Vorfall und nach umfangreichen Untersuchungen wurde gegen Amin Anklage wegen Feuerstiftung und Heerbeiführung der Verletzung von zehn Personen sowie des Todes von vier Personen erhoben. Außer der Aussage des Mitarbeiters des Roten Kreuzes konnten keine konkreten Beweise vorgelegt werden. Die Bewohner des Haus sagten zu Gunsten des Angeklagten aus. Das Gericht mußte ihn aus Mangel an Beweisen freisprechen.

Als während des Prozesses nach den Personen gefragt wurde, die verbrannt waren, sagte ein Zeuge aus Sierra Leone aus, daß sein Freund, der aus Ghana stammte, rechtzeitig das Haus verlassen hatte. Aber als er Aisha nicht unter den Geretteten sah, lief er abermals in das Haus, um sie und ihren Sohn Haashim zu retten. Inzwischen hatte das Feuer das Treppenhaus vollständig erfaßt und der Fluchtweg ins Freie war ihm versperrt.


(von Munir D. Ahmed)