Pechvogel


Heute ist Montag. Aber ich bin nicht zur Arbeit gegangen. Ich habe mich krankgemeldet. Montags, wenn im Büro unsere Gruppe während der Frühstückspause beisammensitzt, erzählt jeder von seinen Heldentaten am Wochenende. Aufgeschnapptes, Klatsch und Witze erzählen die Leute wohl jeden Tag, aber dem Montag kommt eine besondere Bedeutung zu. Genauso, wie die olympischen Spiele alle vier Jahre stattfinden, findet in unserem Büro nach den zwei Feiertagen am Wochenende in der Frühstückspause ein Wettkampf statt. Gewinner ist derjenige, der das interessanteste Erlebnis vorträgt, als Augenzeuge von einem ungewöhnlichen Vorfall berichten kann, oder eine solche Lüge auftischt, daß den anderen nichts anders übrigbleibt, als ihn zu bewundern.

Montag für Montag erzählt Kurt genüßlich von irgend einer neuen Liebschaft. Wenn man ihn hört, glaubt man, daß alle Frauen dieser Erde in ihn vernarrt sind. Gerade am letzten Montag wurde er von allen bewundert. Er hatte auf der Autobahn eine Anhalterin, eine blonde Schwedin, getroffen und sie zu sich nach Hause mitgenommen. Er erzählte ihr, daß er von Beruf Photograph sei und ein paar Aufnahmen von ihr machen wollte. Sollten die Bilder von der Agentur angenommen werden, wäre ihre Karriere als Fotomodell gesichert. Er photographierte sie zwei Tage lang. Kurt erzählte jede Einzelheit so pikant, daß die ganze Gruppe es genoß. Kurt wird im allgemeinen ,,Lady Killer" genannt.

Helmut interessiert sich nur für Autos und Autorennen. Er hat seinen vier Jahre alten Audi frisiert und ihn in einen Sportwagen verwandelt. Seine Wochenenden verbringt er auf der Rennbahn. Mercedes und andere schnelle Wagen überholt er auf der Autobahn so blitzartig, daß den Leuten die Spucke wegbleibt. Kürzlich verfolgte er den Wagen des Rennweltmeisters Niki Lauda auf der Autobahn. Nach einer Verfolgungsjagd von dreihundert Kilometern konnte er ihn überholen, woraufhin Niki ihm anerkennend zuwinkte.

Jörg ist Fußballfanatiker. Selber hat er wohl nie das Leder mit dem Fuß berührt. Aber er betrachtet sich als den besten Kenner dieses Sportes. Er sieht sich jedes Spiel der deutschen Nationalmannschaft an, gleichgültig ob in München oder in Madrid. Jörg beschreibt jedes Tor so anschaulich, daß er die Zeitlupenwiederholung des Fernsehens in den Schatten stellt. Wenn Jörg mit Enthusiasmus Einzelheiten des Spiels erzählt, glaubt man, daß er und nicht die Fußballmannschaft das Spiel gewonnen hat. Wenn aber ein Spiel verloren geht, werden Trainer und Teammanager dafür verantwortlich gemacht. Einmal folgte Beckenbauer den Ratschlag von Jörg und gab anstelle des Rechtsaußen dem Linksaußen noch und noch Pässe. Jörg saß dort in der ersten Reihe und er feuerte die Spieler so großartig an, daß sie an jenem Tag das Spiel mit fünf Toren gewannen.

An und für sich ernte auch ich Montag für Montag Beifall von meinen Kollegen für wahre oder weniger wahre Geschichten. Aber die Tragik meines Lebens ist es, daß ich nie zur Stelle bin, wenn etwas Wichtiges passiert. Einmal drang ein Einbrecher in die Nachbarwohnung ein. Er war gerade dabei das Diebesgut zusammenzupacken, als die Nachbarn ihn überraschten und der Polizei übergaben. Unglücklicherweise war ich an diesen Tag in eine andere Stadt gefahren. Das habe ich allerdings meinen Kollegen nicht gesagt und die Geschichte so erzählt, als ob ich alleine den Einbrecher gefaßt hätte.

An dem Tag als die Bank gegenüber von meinem Haus überfallen wurde, befand ich mich zwar in der Stadt, war aber zufällig eine Stunde vor dem überfall wegen einer Besorgung aus den Haus gegangen. Als ich nach drei stündiger Abwesenheit zurückkam, floß der Verkehr auf unserer Straße wie gewöhnlich. Es gab überhaupt keine Hektik oder Unruhe. Erst durch die Tagesschau erfuhr ich vom Überfall, auch davon, daß sich unter den Tätern eine Frau befunden hatte, deren Aufgabe es gewesen war, an der Tür Wache zu stehen. Wäre ich zuhause gewesen, hätte ich das Geschehen von meinem Fenster aus beobachten können.

Einmal wurde das Flugzeug, mit dem ich fliegen wollte, entführt. Ich hatte mich auf dem Weg zum Flughafen verspätet und traf dort erst ein, als das Flugzeug bereits abgeflogen war. Wenn ich in der Maschine gewesen wäre, hätte ich meine Kollegen mindestens ein Jahr lang mit immer neuen Einzelheiten beeindrucken können.
Manchmal kommt es vor, daß man Augenzeuge eines Ereignisses wird, ohne allerdings dessen Tragweite zu begreifen. Am vergangenen Sonnabend hatte ein Freund meine Freundin Annemarie und mich zu einer Geburtstagsfeier eingeladen. Er lebt in Elmshorn. Als wir spät in der Nacht sein Haus verließen, war es so kalt, daß meine Zähne klapperten. Mein Auto war unter mindestens einem Meter Schnee begraben. Mit Hilfe der Partygäste gruben wir es aus den Schneemassen heraus. Ich hatte einen Pelzmantel an und trug warme Handschuhe. Trotzdem waren meine Hände wie erstarrt und meine Rippen schmerzten. Auch Annemarie fror fürchterlich.

Die Autobahn war ungewöhnlich leer. Plötzlich erblickte ich einen Mann, der splitternackt auf die Autobahn zuhüpfte. Es hatte den Anschein als ob seine Hände gefesselt waren, die er über seinem Kopf hielt und sie hin und her schwänkte und mich zum Anhalten aufforderte. Als ich ihn so plötzlich sah, erschrak ich und habe, statt zu bremsen, sofort auf das Gaspedal gedrückt. Es ist gegen meine Prinzipien, in einer solchen Einöde anzuhalten, und dies mitten in der Nacht. Wenn jemand von mir mitgenommen werden will, soll er es am Tage versuchen, und, bitte schön, angezogen sein. Annemarie hatte ihn auch erblickt und forderte mich immer wieder auf, anzuhalten und ihm zu helfen. Aber ich hörte nicht auf sie.
Nachdem ich Annemarie nach Hause gebracht hatte, fuhr ich in meine Wohnung und schlief bald ein. Zwischen drei und vier Uhr klingelte das Telefon. Ich hob ab. Annemarie war am anderen Ende. Das Bild des Mannes ging ihr nicht aus dem Kopf. Sie war verärgert über mich, weil ich nicht angehalten hatte, um dem Mann zu helfen. Wir hätten, sagte sie, wenigstens die Polizei benachrichtigen sollen. Ich habe sie getröstet und gesagt, daß sie in aller Ruhe einschlafen solle, und wenn sie nicht einschlafen könne, sollte sie Schlaftabletten nehmen.

Das Klingeln des Telefons weckte mich zum zweiten Mal um viertel vor fünf. Annemarie konnte nicht einschlafen und weinte bitterlich. Sie sagte, ihr Gewissen ließe ihr keine Ruhe, wir hätten einem Menschen in Not nicht geholfen. Ich wußte nicht, wie ich Annemarie begreiflich machen sollte, daß wir beide uns in Gefahr befunden hätten und nicht der Mann. Sobald wir angehalten hätten, wären seine Komplizen, die sich dort irgendwo in der Nähe verborgen hielten, herausgekommen und hätten uns als Geiseln genommen. Nur Gott weiß, was dann mit uns geschehen wäre. Wer hatte, um uns freizubekommen, hunderttausende Mark bezahlt? Meine Argumente vermochten Annemarie nicht zu überzeugen. Sie nannte mich grausam, gewissenlos und Gott weiß, was noch. Ich wußte zwar, daß Annemarie eine sehr empfindsame Frau war, aber wegen einer solchen Kleinigkeit sich derart aufzuregen und mich zu beschimpfen, gefiel mir nicht. Nicht wir hatten dem Mann die Kleider ausgezogen und seine Hände und Beine gefesselt. Es war ein reiner Zufall, daß wir vorbeigekommen waren und ihn in diesem Zustand gesehen hatten. Ich war so müde, daß ich zu einer längeren Diskussion nicht in der Lage war. Deshalb gab ich ihr abermals den Rat, Schlaftabletten zu nehmen. Ich sagte, sie solle sich ein wenig ausruhen. Ich würde am Nachmittag zu ihr kommen, und wir könnten uns in aller Ruhe darüber unterhalten.

Als ich aufwachte, war es bereits Nachmittag. Ich war sehr hungrig. Beim Aufstehen schaltete ich das Radio an. Gerade wurden die Dreiuhrnachrichten gesendet. Eine Meldung traf mich wie ein Blitz. Man hatte auf der Autobahn zwischen Hamburg und Elmshorn die Leiche eines nackten Mannes gefunden, dessen Hände und Beine gefesselt waren. Laut Angaben der Polizei müssen ihn seine Entführer entkleidet und an einem Baum gefesselt haben. Es gelang ihm sich zu befreien und hüpfend die Autobahn zu erreichen. Anscheinend hielt kein Auto an, um ihm zu helfen. Er starb durch Erfrieren.
Sofort rief ich Annemarie an. Das Telefon klingelte lange, ohne daß jemand den Hörer abnahm. Vielleicht war sie nicht zu Hause. Aber sie ging eigentlich nirgends hin, ohne mir Bescheid zu geben. Die Sonntage verbrachten wir stets gemeinsam. Am Abend ging ich zu ihr. Ich hatte den Schlüssel zu ihrer Wohnung. Annemarie lag auf den Bett. Als sie auf meine Zurufe nicht reagierte, ging ich näher heran und berührte sie. Ich erschrak - ihr Körper war bereits kalt. Auf dem Tisch lag ein Brief, der an mich adressiert war. Darin hatte Annemarie mir für ihren Selbstmord die Schuld gegeben und geschrieben, sie könne nach dem nächtlichen Vorfall nicht mehr leben.

Ich vernichtete Annemaries Brief, die Polizei hätte daraus erfahren können, daß ich den nackten Mann auf der Autobahn gesehen und ihm nicht geholfen hatte. Und trotz Annemaries Drängen die Polizei nicht benachrichtigt. Das ist strafbar. Nach dem Vernichten des Briefes meldete ich der Polizei Annemaries Selbstmord. Die Polizei durchsuchte die ganze Wohnung, man war sicher, daß Annemarie über ihren Selbstmord irgendeine Nachricht hinterlassen haben müßte. Ich habe der Polizei den Grund ihres Selbstmordes nicht verraten und mich völlig ahnungslos gestellt. Die Untersuchung dauert noch an. Aber die Polizei wird den wahren Grund nicht herausfinden.

Die Zeitungen sind voll von Einzelheiten des Geschehens an der Autobahn. Man fand die Fußspuren des nackten Mannes in einer Länge von 200 Metern. Daraus kann man sehen, wie zäh er war. Ich bin wahrscheinlich der Letzte, der ihn noch lebend gesehen hat. Aber mein Mund ist verschlossen. Ich kann niemandem darüber erzählen, auch das Motiv von Annemaries Selbstmord nicht nennen.

Heute ist Montag, und meine Kollegen werden sich zum Frühstück versammeln und über das Geschehen an der Autobahn reden. Ich habe mich krankgemeldet und mir freigenommen. Mein Gott, einmal im Leben erlebe ich etwas und darf es nicht erzählen.
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(vom Autor aus dem Urdu)