Fatima



"Hallo Mister", rief das größere der beiden Mädchen zu uns herüber. Ich schaute zu meinem Kameraden hin, weil ich sicher war, dass er gemeint war. Auf seinem Gesicht war ein verschmitztes Lächeln zu sehen. Er kniff ein Auge zu und sagte:

"Miss, ich habe dir schon mal gesagt, dass meine Frau ein starkes Weib ist. Und ich habe Angst vor ihr." Er lachte herzhaft, als ob er einen Witz erzählt hätte.

"Ich habe nicht dich angesprochen, sondern Deinen Freund. Deine Frau ist sicher dabei, von deiner Abwesenheit Kapital zu schlagen." Beide Mädchen lachten über diese Bemerkung.

Nun war ich dran mit der Antwort. Aber bevor ich etwas sagen konnte, fasste mein Kamerad mich bei dem Ellbogen und schob mich nach vorn.  

"Lassen Sie sich nicht von ihr überreden. Sie würde Sie ausnehmen und wer weiß, was für sexuelle Krankheiten sie mit sich schleppt."

Mein Kamerad schien ein vorsichtiger Mann zu sein. Es war aus Sambia und genauso wie ich wegen einer Konferenz in Addis Abeba. Wir wohnten im selben Hotel und lernten uns in der Lounge kennen, wohin wir beide uns abends zum Zeitvertreib begaben. In der Lounge lief ein Fernseher, doch wir verstanden nichts. Die Landessprache kannten wir nicht. Außerdem war es in der Lounge sehr schwül, weil der Cooler kaputt war und der kleine Propeller nicht ausreichte, uns den Schweiß zu trocknen.

Ich war am selben Tag in Addis Abeba angekommen und sofort nach dem Einchecken zum Kongresszentrum gefahren. Von dort kehrte ich nach dem Abendessen zurück und musste mein Zimmer wegen der Schwüle verlassen und  mich in die Lounge setzen. Allein wollte ich nicht auf die Straße, weil ich die Umgebung des Hotels nicht kannte und draußen dämmerte es bereits.

Ich schaute mich im Raum um und sah einen graumelierten Afrikaner, der eine Zigarette in den Lippen hielt, ohne sie anzuzünden. Vielleicht hatte er kein Feuerzeug. Ich ging zu ihm  und gab ihm Feuer. Er nahm einen tiefen Zug aus der Zigarette und bedankte sich mit einem Kopfnicken. Dann legte er sofort los, als ob wir uns seit jeher kannten.

"Sir, was soll ich sagen, wie sehr ich mich hier langweile. Was ist dies für eine Stadt. Kein bisschen Spiel oder Theater. Auf den Straßen gibt es überhaupt kein Leben. An jedem dritten elektrischen Mast ist nur eine winzige Glühbirne. Wie kann man damit seinen Weg finden. Ich habe Angst, allein raus zu gehen, um nicht ausgeraubt zu werden."

"Auch ich wollte nicht allein rausgehen", sagte ich, "aber wenn Sie damit einverstanden sind, können wir gemeinsam ein wenig in der Nähe des Hotels ein paar Schritte gehen. Auf der Straße wird es sicherlich nicht so schwül sein wie hier drinnen."

Es war, als ob er auf die Offerte nur gewartet hatte. Sofort stand er auf, zog seine Hose über seinen Bauch und marschierte nach draußen.

Er war ein interessanter Mann, der nur wenig sprach und ununterbrochen lachte. Aber ich konnte über seine Witze überhaupt nicht lachen. In der Nähe des Hotels standen einige junge Mädchen. Und bevor ich mich weiter erkundigen konnte, sprach uns das groß gewachsene Mädchen an. Damit war klar, dass die Frauen zu dem ältesten Gewerbe der Welt gehörten. Ich hatte mir nicht vorgestellt, dass es so etwas in einem sozialistischen Land geben kann. Mein Kamerad war sicher, dass die Frauen ihr Gewerbe nicht ohne staatliche Genehmigung  ausübten. Er hatte sogar den Verdacht, sie könnten der Geheimpolizei angehören. Vielleicht war er aus diesem Grund so vorsichtig.


"Sir, eigentlich gefällt mir das Mädchen sehr, das Sie angesprochen hat. Aber ich habe Angst vor meiner eigenen Courage."

Wegen des schummrigen Lichts hatte ich das  Mädchen nicht so genau sehen können. Ihr  Englisch und insbesondere die korrekte Aussprache hatten mich allerdings in Erstaunen versetzt. Das Mädchen schien gebildet zu sein. Deshalb wollte ich mit ihr reden. Aber als wir von unserem Spaziergang zurückkamen, war sie nicht mehr da.

Am nächsten Abend fand ich meinen Kameraden aus Sambia nicht. Man sagte, dass er ein Telegramm erhalten hatte und sofort in seine Heimat zurückkehren müsste. Ich stellte mich an den Hoteleingang, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Meine Augen aber suchten das Mädchen vom vergangenen Abend. Ich sah es nirgends.

"Macht nichts, ich hätte mit ihr ja ohnehin nichts vor", sagte ich mir und ging in Richtung eines Ladens, von dem aus ein wenig Licht auf die Straße fiel.

Ich war keine zwanzig Schritte gegangen, als das Mädchen aus dem Dunkel heraustrat und neben mir lief. Das Licht der Glühbirne fiel auf ihr Gesicht und ich empfand, dass sie sehr gut aussah. Ich habe in meinem Leben viele Damen dieses Gewerbes gesehen, darunter war aber keine, die hübscher war als dieses Mädchen.

"Willst du mit mir gehen?", fragte das Mädchen.

"Wohin?"

"In ein Hotel in der Nähe. Es wird nur zwanzig Birr kosten. Ich mache alles, was du möchtest."

"Nein, meine Dame. Daran habe ich kein Interesse. Aber ich würde gern wissen wollen, wo du ein so vorzügliches Englisch gelernt hast?"

"Was willst Du damit anfangen? Ich kann noch ein paar  Sprachen. Wenn du  willst, kannst  du dich mit mir auf Italienisch oder Arabisch unterhalten".

"Ich weiß, dass  Äthiopien einstmals eine italienische Kolonie gewesen war. Aber das muss lange vor deiner Geburt gewesen sein. Hast du Italienisch in der Schule gelernt?"

"In der Schule und an der Universität."

"Warst du auf der Universität?"

"Ja, ich bin Graduierte der Addis Abeba Universität."

"Und trotzdem übst du dieses Gewerbe aus?"

"Du scheinst nicht viel über die Lage der Menschen in diesem Land zu wissen. Aber lassen wir das. Ich werde von dir keine zwanzig Birr nehmen, sondern nur fünfzehn. Komm mit mir." Sie fasste mich bei der Hand.

Ich befreite meine Hand aus ihrem Griff und sagte, dass ich mit ihrem Gewerbe nichts im Sinn habe. Aber wenn sie mit mir für eine Stunde spazieren ginge, würde ich ihr zehn Birr zahlen. Damit war sie einverstanden.   

Das Mädchen schien ein wenig rätselhaft zu sein. Vor der sozialistischen Revolution war sie Lehrerin gewesen. Da sie sich mit den Revolutionären nicht verstand, wurde sie aus ihrem Job hinausgedrängt. Bedienstete der sozialistischen Regierung hatten Vorbehalte gegen ihre Loyalität, weil sie aus Eritrea stammte.

Es gab Zeiten, in denen die Sozialisten aus Eritrea gegen Kaiser Haile Selassie rebellierten. Nach ihrer Meinung war Eritrea kein Teil Äthiopiens. Die italienische Besatzungsmacht hatte das Land willkürlich zu einer Provinz von Äthiopien erklärt, obwohl die dortige Bevölkerung Arabisch sprach und nicht Amharisch, die  offizielle Sprache Äthiopiens. Außerdem waren die Bewohner Eritreas in der Mehrheit Muslime. Äthiopien dagegen ist seit siebzehn oder achtzehn Jahrhunderten ein christliches Land.  

Nach diesem Tag trafen wir uns jeden Abend gegen acht Uhr vor dem Hotel und spazierten auf den Straßen  in der näheren Umgebung, wobei wir uns dann eine bis zwei Stunden lang über alles mögliche unterhielten. Meine Informationen  über Äthiopien waren ziemlich begrenzt. Ich wollte über die dortige Gesellschaft mehr wissen. Anders als in den übrigen afrikanischen Ländern gibt es in Äthiopien eine gewisse soziale Ordnung. Die Gesellschaft kennt viel zu viele Regeln. Die Beziehungen zwischen Männern und Frauen sind sehr gespannt. Fatima meinte, dass man den Frauen noch weniger Rechte zubilligt als den Tieren. Sie glaubte, dass sich die Situation von Frauen mit der Verfestigung der sozialistischen Gesellschaftsordnung bessern würde. Aber für sich persönlich wollte sie diese Gesellschaftsordnung nicht akzeptieren. Als sie vom Lehrerposten suspendiert wurde, musste sie mit anderen zusammen ein Seminar absolvieren. Aber die Leitung des Seminars wusste selbst nicht, wie die sozialistische Ausbildung auszusehen hatte. Es wurden wirre Vorträge gehalten. Fatima verstand die Situation gleich in der ersten Woche und bombardierte das Lehrpersonal mit ihren Fragen und Einwendungen. Das Resultat war, dass sie mehrfach bestraft und am Ende als nicht "erziehbar" entlassen wurde.

Ich hatte Gelegenheit gehabt, ein solches Trainingslager zu besuchen, und kam mit gutem Gefühl zurück. Allerdings war es richtig, wie Fatima sagte, dass ich die amharische Sprache nicht verstand und dadurch auf die Erklärungen des Dolmetschers angewiesen war. In diesem Lager wurden Lehrer für die Alphabetisierungskampagne ausgebildet. Die Berater waren Erziehungswissenschaftler aus Kuba, wo zuvor eine erfolgreiche Alphabetisierungskampagne durchgeführt worden war. Binnen fünf Jahren war im ganzen Land kein Analphabet mehr anzutreffen. UNESCO hatte Kubas Beispiel  als nachahmungswürdig erklärt.

Äthiopiens Erziehungsminister Wolde, auf dessen Einladung ich nach Äthiopien gekommen war, gehörte einstmals zu meinen Studienkameraden an der Universität in Deutschland. Unsere Freundschaft stammte aus dieser Zeit. Wir hatte gemeinsam eine Gesellschaft für die Unterstützung des Kampfes zur Unabhängigkeit Eritreas gegründet, die Versammlungen veranstaltete und Protestaktionen durchführte. Meine Sympathien galten der muslimischen Bevölkerung von Eritrea, und Wolde unterstützte sie wegen der Ideologie der Bewegung. Nun war er selbst Mitglied einer Regierung, die die Unabhängigkeitsbewegung Eritreas mit Waffengewalt zu unterdrücken versuchte. Dies sagte ich ihm offen, als er mich zum Abendessen zu sich nach Haus einlud. Woldes Standpunkt war, dass eine sozialistische Revolution bereits stattgefunden habe. Daher hatte die Bevölkerung von Eritrea keinen Grund mehr, gegen die Zentralregierung mit Waffengewalt zu kämpfen. Weder konnte er mich überzeugen, noch ich ihn.

"Lass diese Diskussion und sag mir, wie deine Abende mit dem Mädchen - wie heißt sie übrigens - sich gestalten?"

Wolde wollte wohl unsere ernsthafte Diskussion in andere Bahnen lenken.

"Sehr gut. Von ihr bekomme ich im Gegensatz zu den offiziellen Führern bessere und zu treffendere Informationen über das Land."

Danach sprachen wir über Erinnerungen aus unserer  Vergangenheit. Mir war aber bewusst geworden, dass die Regierung über meine Abendspaziergänge wohlunterrichtet war. Vielleicht stand Fatima unter Beobachtung.

Ich hatte Wolde gebeten, mir den Besuch einiger Landesteile  zu ermöglichen. Wegen des Bürgerkrieges war es nicht erlaubt, sich im Land frei zu bewegen. Auch waren Fahrten von Touristengruppen untersagt. Wolde wollte mich mit einer Militäreinheit schicken. An dem Abend erzählte er von einer Militärpatrouille, die in das Gebiet geschickt werden sollte, wohin ich fahren wollte. Der Verteidigungsminister wollte persönlich die Einheit führen. Er hatte sich bereit erklärt, mich mitzunehmen.

Woldes Fahrer brachte mich gegen zehn Uhr ins Hotel zurück. Fatima stand neben der Hotelpforte und wartete auf mich. Da es den Frauen dieses Gewerbes verboten war, ins Hotel einzutreten, ging ich mit ihr zusammen auf unseren nächtlichen Spaziergang. Ich erzählte ihr nichts über die Diskussion mit Wolde, unterrichtete sie aber darüber, dass ich in zwei Tagen zusammen mit einer Militärpatrouille zur Besichtigung eines Landesteils fahren werde und dass der Verteidigungsminister höchstpersönlich die Patrouille leiten wird. Da das Ausgehverbot ab elf Uhr galt, hatte es Fatima eilig, nach Haus zu kommen. Sie versprach, mich am nächsten Abend um acht Uhr zu treffen, und sagte noch beim Weggehen, dass sie mich zum Abschied  in ein äthiopisches Restaurant einladen wollte.

Am nächsten Abend kam sie in festlicher Kleidung. Sie sagte, sie wollte unseren Abschied ein wenig feiern. Das Restaurant ihrer Wahl war in einem alten Gebäude. Es bestand aus einem einzigen Zimmer und,  um eine gewisse festliche Stimmung zu erzeugen, hatte man über die nackte Glühbirne ein rotes Tuch gehängt. Außer uns gab es noch ein weiteres Paar. Das Essen bestand aus einem riesigen Fladenbrot, in dessen Mitte drei verschiedenartige Gemüsesorten plaziert waren. Mit dem allerersten Biss verbrannte ich mir die Zunge. Ein Chili dieser Schärfe war mir in meinem Leben bisher nicht vorgekommen. Über mehr als zwei oder drei Bisse kam ich nicht hinaus. Fatima aß das restliche Brot und Gemüse mit offensichtlichem Vergnügen.

Zurück im Hotel machte ich mein Reisegepäck fertig, weil wir sehr früh losfahren sollten. Auch die Hotelrechnung wurde beglichen. Und ich legte mich früher als sonst schlafen. Um halb zwei wachte ich auf. Es rumorte in meinem Bauch. Mein ganzer Körper war schweißgebadet. Ich kam mit Mühe bis zur Toilette. Es war, als ob jemand meine Gedärme zerschneidet. Die restliche Nacht verbrachte ich hin und her laufend zwischen der Toilette und meinem Bett. Bis zum Morgen hatte ich hohes Fieber.

Als die Militärpatrouille mich am Morgen abzuholen kam, war ich nicht mehr in der Lage, zu reisen. Gezwungenermaßen musste ich dem Verteidigungsminister meine Absage übermitteln lassen.

Der Hotelarzt kam zur Frühstückszeit und gab mir ein paar Pillen. Ich sollte tagsüber  schwarzen Tee ohne Zucker und Milch trinken. Zum Essen empfahl er Zwieback.

Im Laufe des Nachmittags ging es mir zunehmend besser. Die Intervalle zwischen den Stuhlgängen verlängerten sich. Möglicherweise war der Darm vollkommen entleert. Am Abend hatte ich kein Fieber mehr, lediglich eine gewisse Schwäche.

Pünktlich um acht Uhr brachte der Hotelboy einen Zettel von Fatima, die auf mich an der Hotelpforte wartete. Ich zog mich um und ging mit wackligen Schritten bis zum Haupteingang und erfuhr, dass auch sie die Nacht auf der Toilette verbracht hatte. Sie sagte, dass sie am nächsten Morgen Addis Abeba verlassen werde. Sie war nur gekommen, um sich nach mir zu erkundigen, weil der scharfe Chili auf ihre Bestellung hin in unser Essen gemischt worden war.

"Weshalb?",  wollte ich wissen.

"Weil ich um jeden Preis dich davon abhalten wollte, mit dem Verteidigungsminister zu reisen."

Diese Offenbarung war für mich vollkommen überraschend. Was für ein Anrecht hatte sie darauf, mein Programm durch einander zu bringen. Ich verfluchte sie in weiß Gott wie vielen Sprachen.

Fatima hatte es eilig. Sie schaute ständig zur Straßenkreuzung, wo die Polizeiwache sich befand. Beim Abschied sagte sie nur soviel, dass ich bis zum nächsten Morgen alles erfahren werde. Ganz schnell küsste sie mich auf die Wange und verschwand in der Dunkelheit.

Das Ausgehverbot galt bis sechs Uhr morgens. Viertel nach sechs kam Woldes Bruder mich abholen. Ohne eine Begründung zu nennen, forderte er mich auf,  mitzukommen. Mein Gepäck war ohnehin reisefertig. Ich brauchte lediglich den Schlafanzug mit der Straßenkleidung zu tauschen. Er ließ mich nicht einmal rasieren.

Gegen seine sonstige Gewohnheit fuhr er an jenem Tag den Wagen selbst. Auf dem Weg zum Flughafen erzählte er, dass die Militärpatrouille in einen Hinterhalt der Rebellen aus Eritrea geraten war. Eine Bombe hatte alle Mitglieder inklusive des Verteidigungsministers zerfetzt. Weil diese Reise top-secret war, hatte man die Verhaftung aller Personen angeordnet, die dies hätten verraten können. In diesem Zusammenhang hatte man am Abend auch Fatima verhaftet.  Die Polizei wusste über sie seit langem, dass sie den Aufständischen aus Eritrea Nachrichten aus der Hauptstadt zukommen ließ. Auch meine Verhaftung stand kurz bevor, insbesondere weil die Führung erfahren hatte, dass ich mit der Militärpatrouille reisen sollte, aber in letzter Minute mich krank gemeldet und die Reise abgesagt hatte..

Am Flughafen stand ein Flugzeug von Sudan Air abflugbereit. Der Flug nach Khartum verspätete sich an diesem Tag meinetwegen um fünfzehn Minuten.

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(von Munir D. Ahmed)