Ein Schandfleck


Nachdem er den ganzen Tag im Büro geschuftet hatte, machte er, sobald er auf dem Nachhauseweg in der S-Bahn einen Sitzplatz finden konnte, seine Augen zu und ließ den ganzen Tag mit seinen Höhen,  Niederlagen und den Sticheleien der Kollegen Revue passieren. Vieles konnte durch Nachdenken wieder ins Lot gebracht werden. Doch manchmal schlief er einfach ein und wachte erst am Pinneberger Bahnhof, der letzten Station dieser Linie, auf. Kurz vor der Ankunft wurde den Passagieren die Anweisung erteilt, am nächsten Bahnhof auszusteigen. Danach schaute der Schaffner in allen Abteilen nach, ob  jemand vielleicht eingeschlafen war. Der Bus bis zu seinem Dorf stand meistens fahrbereit am Bahnhof.

Aber es war nicht so, dass er fest einschlief. Er machte unterwegs immer wieder die Augen auf,  schaute um sich und fühlte nach, ob jemand vielleicht sein Portemonnaie gestohlen hat und ob seine Tasche, auf die er beide Arme gelehnt hielt, unbehelligt auf seinem Schoß lag.  Ein kurzer Blick aus dem Fenster zeigt ihm, wie weit die Bahn gekommen war und wie viel Zeit bis zum Erreichen des letzten Bahnhofs fehlte. Er sah mit  halb geöffneten Augen auf die Passagiere um sich  herum und fand bestätigt, dass alles in Ordnung war. In der nächsten Sekunde schloss er wieder die Augen und kehrte in seine halb wache und halb schlafende Welt zurück.

An jenem Tag war es genauso. Aber dann sagte ihm irgendein wacher Instinkt in seinem Gehirn, dass er soeben ein bekanntes Gesicht gesehen hatte. Er schaute abermals in der Hoffnung, dass er die Dame vielleicht erkennen würde, die ihn so fixierte. Aber mit fortschreitendem Alter machte ihm seine Schwäche, Gesichter wiederzuerkennen, einen Strich durch die Rechnung. Er schalt sein Gedächtnis, das ihm einer so hübschen Frau keinen Namen gab. Aber, wie immer, kam sie ihm nicht zu Hilfe. Nun blieb ihm nichts anderes übrig als vorzugeben, die Dame erkannt zu haben. Allerdings gibt es da eine Schwierigkeit. Manchmal lassen Frauen erbost die Bemerkung fallen, dass dieser Trick sehr alt, abgegriffen und beschämend ist, um eine Frau anzusprechen. Damit verliert man bei den herumsitzenden Leuten vollends die Achtung.

Als jedoch die Frau in seinem Blick den leisen Erkennungsblitz sah, machte sich ein Lächeln auf ihren Lippen breit und sie streckte ihm die Hand aus. Zwar erinnerte er sich immer noch nicht, wie sie hieß, aber das leichte Erröten auf ihren Wangen und die Wärme ihres Handdrucks ließen ihm erahnen, dass ihre Bekanntschaft keine flüchtige gewesen sein muss.

„Wo lebst du und was machst du?“, fragte er, als ob er sie erkannt hätte.

„Hier in Hamburg und ich bin Lehrerin an einem Gymnasium“, antwortete sie.

„Welche Fächer?“, fragte er nach.

„Englisch und Geographie. Nächste Woche fahre ich mit meiner Klasse nach South Wales auf Klassenfahrt. Du erinnerst dich vielleicht, dass du mir die Adresse eines Freundes in Lancashire gegeben hattest.“

Damit kam alles wieder zurück. Um Himmelswillen, wie konnte er Meike vergessen. Jedes Detail seiner Bekanntschaft mit ihr war in seinem Gedächtnis gespeichert. Sie war nicht die schönste ihrer Zeit, aber auch nicht hässlich. Als er sie auf einer Party kennen lernte, dacht er, dass er einen großen Sieg errungen hatte. Meike hatte sein Zögern gespürt und lächelnd gesagt: „Setz dich zu mir. Ich beiße nicht.“

Meike war damals zwanzig oder einundzwanzig und studiert an der Universität im zweiten oder dritten Semester. Über sie wurde viel in den Zeitungen geschrieben, weil ihrem nigerianischen Freund die Ausweisung aus Deutschland drohte. Er war mit einem Studentenvisum gekommen, hatte sich aber nicht besonders um sein Studium gekümmert. Bei  einer Tanzparty lernte er Meike kennen und bald danach wurde sie schwanger. Schwangerschaftsabbruch war damals in Deutschland strikt verboten. Außerdem war sie katholisch und wollte wegen der Kirchenlehre keine Abtreibung vornehmen. Aufgrund einer Anzeige von Meikes Vater  nahm die Polizei ihren nigerianischen Freund wegen angeblicher Vergewaltigung fest. Vor dem Richter gab Meike an, dass alles, was mit ihr passierte, mit ihrer Einwilligung geschah. Dennoch wurde gegen ihren Freund die Ausweisung angeordnet. Daraufhin hin verließ Meike im Zorn das Haus ihres Vaters. Sie hatte Glück, dass ihre ältere Schwester sie aufnahm und ihr sagte, dass sie, solange sie wollte, bei ihr wohnen könnte.

Er hatte die Berichterstattung darüber in den Zeitungen gelesen und auch ihr Bild gesehen. Damals war ihre Geschichte an der Universität in aller Munde. Studenten protestierten gegen die Ausweisung ihres Freundes aus dem Land und verfassten Resolutionen zu Meikes Gunsten. Eigentlich zögerte er, sich zu ihr zu setzen, weil sie den Ruf  hatte, dass kein Mann vor ihr sicher war. Sie zählte sozusagen zu den Männerkillern. Auf der anderen Seite, wenn ein armer Mensch in die Fänge der Journalisten gerät, wird er entweder in den Himmel gehoben oder mit Dreck besudelt. Er schaute in das schöne Gesicht von Meike und fragte sich, warum man sich eigentlich vor ihr in Acht nehmen sollte.

Durch das Gespräch mit ihr während der Party stellte er fest, dass sie überaus intelligent war und keinerlei Vorurteile kannte. Die Zahl der afrikanischen Studenten war damals an der Hamburger Universität sehr klein und im Allgemeinen wurden sie von den deutschen Kommilitonen freundlich behandelt. Die Mädchen waren allerdings zurückhaltender und nicht immer bereit, mit ihnen auszugehen. Dagegen wurde über Meike gemunkelt, dass  sie Afrikaner gegenüber den Deutschen vorziehen würde. Sie wurde deshalb  in der Universität „afrikanische Braut“ genannt. Ich erfuhr, dass sie fast alle afrikanischen Studenten kannte und immer bereit war, ihnen Hilfsdienste zu leisten. Wenn jemand von ihnen etwas bei der Behörde zu erledigen oder Probleme mit der Einschreibung an der Uni hatte, Teilzeitarbeit suchte oder ein Zimmer brauchte, stets war Meike bereit, mitzugehen. Und sie löste die Probleme meistens mit Erfolg.

Er war damals neu ins Studentenparlament gewählt worden und hatte das Referat „Angelegenheiten ausländischer Studenten“ übernommen. Deshalb wollte er Meike kennenlernen. Der Knabe, der die Fete organisiert hatte, zeigt ihm Meike von weitem und sagte: „Vorstellen wirst du dich doch wohl können.“ Meike hatte das Gespräch mitbekommen. Sie machte den ersten Schritt und lud ihn ein, sich zu ihr zu setzen.

Unerwarteterweise sprach sie den ganzen Abend die Belange der Afrikaner nicht an. Das Gespräch zwischen ihnen kreiste um die Psyche der Deutschen, die in Meikes Augen sehr komplex war. Über ihren Vater sagte sie, dass er im Grunde kein schlechter Mensch und überhaupt nicht gegen Ausländer eingestellt war. Er wollte nur nicht, dass seine Tochter in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerät. Er gehörte zu den Leuten, die glauben, dass ein erfolgreiches Leben nur lebt, wer leise mit gesenktem Haupt durch das Leben geht. Sie meinte, dass ihr Vater sich diese Ansicht während der Zeit des Nationalsozialismus zurechtgelegt hatte. Er wollte nicht, dass die Geschichte seiner Familie sich wiederholt. Aber Meike wusste nicht, was ihr Vater damit eigentlich meinte.

Inzwischen hatte Meike ein Mädchen geboren, das wie sein afrikanischer Vater rabenschwarz war. Sie holte Bilder ihrer Tochter aus der Handtasche heraus und zeigte sie ihm. Sogar  jenes Bild, auf dem das Mädchen auf dem Schoß des Großvaters saß. Sie sagte, Vaters Wut verflog mit der Geburt des Mädchens.

„Er liebt sie über alle Maßen, erfüllt ihre Wünsche  und ist dabei, sie zu verziehen“, sagte Meike lachend.

Damals hatten Studenten keine Autos und die Partys dauerten die ganze Nacht. Die erste Straßenbahn fuhr um vier Uhr morgens und war voll besetzt mit Arbeitern, die auf dem Weg zur Arbeit waren, und mit Studenten, die von den Partys heimkehrten. Als sie sich gegen Morgen von dem Gastgeber verabschiedeten, hatte Meike sich  bei ihm untergehakt. Auf ihren Wunsch verließen sie die Straßenbahn am Dammtorbahnhof und marschierten in Richtung Alster. Meike meinte, dass man an so einem schönen Morgen zu Fuß nach Hause gehen sollte. Sie liefen am Alsterufer entlang. Die Richtung hatte Meike bestimmt und gesagt, dass das Haus ihrer Schwester ungefähr acht bis zehn Kilometer von dort entfernt war. In anderen Worten in einer Entfernung von zwei bis drei Stunden Fußmarsch. Aber er merkte durch ihre Bemerkungen sehr bald, dass sie es nicht eilig hatte, nach Hause zu kommen. Ihre Tochter war an dem Tag bei ihren Eltern, die sich mehr als Meike um sie kümmerten. Und der Schwester war völlig egal, ob Meike früh oder später nach Hause kam. Sie sagte immer, man kann nur in jungen Jahren seine Nächte nach eigenem Gutdünken verbringen. Im restlichen Leben muss man sich strikt an die Regeln der Gesellschaft halten.

„Darf ich dich zum Frühstück zu mir bitten?“,  traute er sich zu sagen.

Meike hatte nichts dagegen, zu ihm zu gehen. Aber sein Studentenheim lag in der entgegengesetzten Richtung. Und um dorthin zu gelangen, mussten sie die Straßenbahn vom Dammtorbahnhof nehmen. So machten sie auf der halben Strecke zum Haus ihrer Schwester kehrt. Inzwischen schien die Sonne und die ersten Lichtstrahlen fielen auf die Alster. Zahlreiche Vögel zwitscherten und einzelne Fischreiher tauchten nach Fischen ins Wasser. Noch sah man keine Segelboote auf dem See. Aber die Zahl der einzelnen Morgenspaziergänger wuchs ständig an. Ein, zwei Jogger sahen sie vorbeilaufen. Aber noch gab es außer ihnen kein weiteres sich küssendes Paar an der Alster. Beide wussten, dass ihr Flirt eine vorübergehende Sache war, wonach Meike zu ihren afrikanischen Freunden zurückkehren wird und beide sich mit ihren eigenen Sachen befassen und einander vergessen werden.

Dann erfuhr er eines Tages, dass Meike sich mit einem Sudanesen verlobt hatte. Dieser nahm sie mit in den Sudan, um sie seiner Familie vorzustellen. Aber sie kehrte wenige Tage später zurück, weil die Familie ihres Verlobten abgelehnt hatte, sie zu akzeptieren. Seine Eltern wollten ihn mit einer Jungfrau verheiraten, die Meike nun mal  nicht mehr war. Sie war nicht einmal geschieden, weil ihr nigerianischer Freund sie nie geheiratet hatte. Und ihre Tochter war die Frucht einer verbotenen Beziehung. Meike hörte alles und kaufte sich stillschweigend ein Flugticket und kehrte nach Deutschland zurück.

Sie sahen sich nach der Partynacht und dem folgenden Tag, den sie in seinem Studentenheim gemeinsam verbracht hatten, nicht wieder. Auch hatten sie keine gemeinsamen Freunde, durch die er über Meike und sie über ihn hätten Nachrichten bekommen können. Ohnehin war ihre Bekanntschaft vorübergehender Natur. Sie hatten ihre getrennten Kreise und eigene Wege. Es blieb dem Zufall überlassen, ob sie sich wieder treffen würden, was in einer Stadt von der Größe Hamburgs nicht jeden Tag vorkommt. Es war reiner Zufall, dass sie sich nach so vielen Jahren in der S-Bahn trafen. Er schlug vor, dass sie an der nächsten Station aussteigen sollten, sich in einen Gasthof setzen und ihre jeweilige Geschichte erzählen.

Meike stimmte mit einem Kopfnicken zu und sie setzten sich am Bahnhof  Krupunder in  eine Bierstube, die um diese  Zeit sehr öde wirkte. Außer ihnen gab es keinen anderen Gast.

„Liebst du die Afrikaner immer noch?“, fragte er.

„Das ist doch selbstverständlich“, antwortete Meike. Dann erzählte sie, dass sie vor kurzem nach sieben jährigem Aufenthalt in Namibia zurückgekehrt war. Sie wurde dorthin geschickt, um in einer deutschsprachigen Schule zu unterrichten. Dieses Land war im neunzehnten Jahrhundert eine deutsche Kolonie gewesen, weshalb dort immer noch Deutsche leben. Um deren Kindern Deutsch beizubringen, schickt die deutsche Regierung Lehrer in das Land, damit sie die Sprache ihrer Vorväter nicht vergessen.

„Ich rede nicht von den weißen Afrikanern. Ich meinte, ob deine Liebe für die Schwarzafrikaner noch immer besteht?“, wollte er wissen.

„Auch du fängst an zu reden wie mein Vater. Er verübelte mir, dass ich die Schwarzafrikaner besonders liebte, als ob dies etwas Verwerfliches wäre.“

„Ich weiß nicht, warum dein Vater dagegen war. Ich frage nur, weil in unserer Studentenzeit diese Sache dich von den anderen hervorhob. Und du weißt sicherlich, dass die Jungs dich „afrikanische Braut“ nannten.“

Meike erzählte lachend, dass sie tatsächlich einen Afrikaner geheiratet hatte nach einem Kennen lernen in Paris. Er stammte aus Kamerun und war Asylant in Frankreich. Weil er in seine Heimat nicht  zurückgehen konnte, hatte Meike keine Gelegenheit gehabt, dorthin zu gehen und zu leben. Auf der anderen Seite war ihr Mann in französische Kultur und Sprache derart verliebt, dass er sich nicht bereit fand, in Deutschland zu leben, wo Meike Gymnasiallehrerin war.

„Deine Tochter ist sicherlich jetzt erwachsen. Was sagt dein Vater zu ihr?“

„Meine Tochter Christel steht schon lange auf eigenen  Füßen. Aber mein Vater hat diesen Tag nicht erlebt. Bei seinem Tod war sie erst in der Grundschule. Meine Mutter lebt noch. Sie ist auf Christel sehr stolz.“

„Konnte dein Vater dir deine Freundschaft mit den Afrikanern verzeihen? Du hattest mir gesagt, dass er nicht wollte, wenn du den Leuten auffällst. Und du konntest dies nicht verstehen. Du sagtest, der Himmel wird nicht einstürzen, wenn du den Leuten auffallen solltest.“

„Damals mochte ich seine Vorbehalte nicht, weil dies nach  Engstirnigkeit roch. Aber wenn ich heute zurückblicke, kann ich verstehen, dass seine Vorbehalte nicht gänzlich falsch waren. Mehr als ich hat Christel dafür einen hohen Preis zahlen müssen. Sie ließ man auf Schritt und Tritt fühlen, dass sie schwarz ist. Für Kinder ist es besonders schmerzhaft, anders zu sein als die übrigen. Sie beklagt sich heute noch über den in der Gesellschaft verbreiteten Rassendünkel.“

„Was war in der Geschichte deiner Familie passiert, deren Wiederholung dein Vater vermeiden wollte? Hatte dein Vater mit Dir darüber gesprochen?“

„Mein Vater hat mir nichts verraten. Aber als ich bei meiner Mutter nachfragte, sagte sie nur soviel: Dein Vater wollte nicht, dass du genauso endest, wie deine Tante Helena, die Selbstmord begangen hatte.“

„Was war der Grund für ihren Selbstmord?“

„Das wusste Mutter auch nicht, weil sie damals meinen Vater noch nicht kannte. Mein Vater stammte aus Ostpreußen, das später zu Polen kam. Alle Mitglieder seiner Familie wurden im Krieg getötet und nur er allein überlebte, weil er zu der Zeit zum Militär eingezogen war. Er hatte Mutter gesagt, dass seine ältere Schwester noch vor dem Krieg Selbstmord begangen hatte, worüber er zeit seines Lebens nicht hinwegkam. Mutter wusste nichts Näheres. Aber ich wollte unbedingt hinter das Geheimnis kommen. Deshalb stöberte ich nach und durchwühlte Vaters Papiere. Am Ende fiel mir ein Zeitungsausschnitt aus dem Jahr 1938 in die Hände, auf dem ein Bild von einem Aufmarsch von Mitgliedern der Nationalsozialistischen Partei abgebildet war. Genau in der Mitte des Bildes sah man ein Mädchen, um dessen Hals ein Plakat baumelte. Darauf stand: „Ich bin eine Judenbraut und ein Schandfleck auf der Stirn der Deutschen Nation.“
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(vom Autor aus dem Urdu)