Charles Mingus: "Blues & Roots"

On the edge: Zwischen Genie und Wahnsinn


Mit dem Jazz ist das so eine Sache: Mir scheint, dass er so eine Art Mittelstellung zwischen klassischer Musik  und der sogenannten U-Musik (Pop/Rock/Techno/ und was es halt sonst noch so gibt) einnimmt. Einerseits durch die Verwendung von Schlagzeug, Saxofon, Bass, eher der Unterhaltungsmusik zugehörig, andererseits ist durch thematische Komplexität, Variationen, Atonalität und rhythmische Brüche der Jazz dann doch wiederum eine Musikrichtung, die hohe Anforderungen an das Ohr des Rezipienten stellt und somit von der Art des konzentrierten Hörens mehr mit den Hörgewohnheiten sogenannter „ernster“ Musik zu vergleichen ist. Wie dem auch sei, ist der nicht-kommerzielle Jazz zumeist ein „Minderheiten“-Programm, und wenn man die „Verzückung“ etlicher z. B. „Free-Jazz“-Fans betrachtet, nicht selten eine zu „kopfige“ Angelegenheit: Instrumentenbeherrschung und ihre ausufernde  Darbietung der selbigen, schräge Thematik, Rhythmusbrüche etc. erwecken oft den Anschein, es handle sich dabei  - paradoxerweise – zumal ja eine Urwurzel des Jazz in der „Bauchmusik“ des Blues zu finden ist – um eine eher intellektuelle Angelegenheit, denn eine Musikrichtung, die wirklich „Soul“, wirklich „Seele“ vermitteln will. Nun gut, Jazz ist nicht gleich Jazz: Es gibt den melodischen Swing, der insgesamt gesehen doch recht leicht zugänglich ist, später allerdings, quasi als Fortführung und Weiterentwicklung kamen dann Bop, Bebop und wie die verschiedenen Richtungen so heißen. Bei letzteren handelt es sich dann schon um komplexere musikalische Strukturen mit rasenden Tempi und teilweise bloßen Melodiefetzen, die – wie auch andere Kunstsparten wie Malerei oder Literatur – die Zerrissenheit der modernen Zeit widerzuspiegeln suchten. Der Höhepunkt jener Entwicklung war eben besagter „Freejazz“, der eigentlich alle Wurzeln der Jazzmusik hinter sich ließ und – leider auch oftmalig – krampfhafte Originalität zur Schau stellen wollte. Mitte der 60er Jahre des vorigen Jahrhunderts allerdings war man dieser mitunter etwas zwanghaften Entwicklung häufig überdrüssig und besann sich erneut der Wurzeln, der „Roots“, und so verband sich der Freejazz wieder mit dem Blues.

Eines der beeindruckendsten Dokumente der Rückbesinnung auf die Wurzeln des Blues gelang einer der absolut skurrilsten und schwierigsten Gestalten des Jazz, Charles Mingus. Mingus, ein Schwarzer mit asiatischem Einschlag, ist einer derjenigen, dem schon in die Wiege ein Übermaß an Probleme gelegt wurde: Schon bald nach seiner Geburt starb seine Mutter, er wuchs bei Stiefeltern im Schwarzenviertel von Los Angeles auf, war aber den Schwarzen zu asiatisch und den Chinesen zu schwarz. Also die besten Voraussetzungen für saftige Neurosen, die Zeit seines Lebens dann auch bestens kultiviert wurden. Er selbst lernte zunächst eine Vielzahl von Instrumenten, ehe er auf den Kontrabass stieß, den er – ganz im Stile seiner herrischen Persönlichkeit – vom Neben – bzw. Begleitinstrument zu einem tragenden Instrument stilisierte. Bei seiner Art war dies nicht weiter verwunderlich, denn Mingus galt als ungewöhnlich herrschsüchtig und cholerisch. Die meisten Musiker hielten es nicht lange neben ihm aus und konnten wirklich froh sein, wenn sie dem Rasenden mit heilen Knochen entkommen konnten. Und wenn wir von cholerischem Temperament sprechen, meinen wir nicht den „gemeinen“ Jähzorn, sondern die blanke Raserei, die schon mal dahingehend ausarten konnte, dass Mingus – weil er den Eindruck hatte – von seinen Mitspielern nicht richtig verstanden zu werden, ihnen mit Nachdruck zum Verständnis verhalf: Es sollen im Zuge dieser Erklärungen auch schon mal Nasenbeine zu Bruch gegangen sein etc. Mingus war jedoch nicht nur ein Neurotiker, sondern auch hochintelligent und spürte, dass es so nicht weiter gehen konnte. So entdeckte er die beruhigende Wirkung von Tranquilizern, die er sich kiloweise hineinschüttete, einerseits mit Erfolg, da sie sein cholerisches Temperament zu zügeln vermochten, andererseits jedoch zahlt man für die Chemie auch seinen Preis: er wurde zusehends arbeitsunfähig, und letztlich ging sogar seine sprühende, nein manische, Kreativität verloren. Kurz bevor er eine lange Zwangspause von der Musik einlegen musste, produzierte er unter anderem einige Skandale – bei einem Konzert kam es, -  lange noch vor Peter Handke – zu Publikumsbeschimpfungen durch Mingus, - aber auch einige verdammt gute Platten.

Eine davon ist die vorliegende Aufnahme, „Blues & Roots“: Man hatte ihm vorgeworfen, dass er in seinen letzten Arbeiten das eigentlich jazzige Element, das „Swingende“, sehr vernachlässigt habe. Zu sehr Kopfmusik, geprägt von experimentellen Kinkerlitzen, dafür zu wenig Jazz. Wie man sich bei einem Naturell eines Mingus vorstellen kann, tat dieser besagte Kritiker gut daran, Mingus nicht persönlich über den Weg zu laufen. Andererseits allerdings inspirierte Mingus dieser kritische Vorwurf zu einer fantastischen Platte. Zu einer Aufnahme, die auch Neulinge auf dem Sektor Jazz anzusprechen vermag. Auf „Blues & Roots“ besinnt sich Mingus der Wurzeln, eben des Blues, aber er geht auch an die Wiege zurück, nach New Orleans mit seinem Dixieland etc. Aber es wäre nicht Mingus, hätte er das Ganze nicht noch mit seinen urpersönlichen Zutaten verfeinert: Die Platte entfaltet immens ihre mitreißende Schönheit in diesem Spannungsfeld zwischen einer harmoniesüchtigen Suche nach Melodielinien und abrupten Dissonanzen. Ich kann jedoch auch dem „Einsteiger“ versichern, dass all die Dissonanzen, Rhythmusbrüche das Hören der Platte nicht zu einer mühsamen, kopflastigen Disziplinübung verkommen lassen, sondern sehr wohldosiert eingesetzt werden und gerade deshalb unglaublich erfrischend, witzig und einfallsreich ihres  Weges kommen. Wenn man sich die Mühe macht, die paar Takte einer notwendigen verstärkten Aufmerksamkeit infolge von unkonventionellem musikalischem Material durchzustehen, wird man reichlich mit fetziger, swingender Musik und  mit erfrischenden Melodielinien der Bläsersektion erfreut und belohnt. Immer dort wo der Hörer das Gefühl hat, dass es jetzt schon hart an die eigene Belastbarkeitsgrenze geht, entfalten sich auch prompt schon wieder kraftvolle Einfälle, Spielfreudigkeit und treibende Rhythmen. Außerdem wird man mit der Zeit auch jene „Ausfälle“ ins akustisch-Ungewöhnliche zu schätzen lernen und sie als weitere Bereicherung erfahren. Das Blues-Schema ist an sich ein nicht besonders einfallsreiches, zwar ungemein aus dem Bauch kommend, aber letztlich etwas monoton. Mingus versteht es auf dieser Platte meisterhaft, die Grenzen des schlichten Blues, des New Orleans Dixieland hinaus zu schieben und mit typischer mingus´scher Originalität zu garnieren, sodass der Hörer alle Ohren voll zu tun haben und ihnen beileibe in nahezu keinem Moment langweilig wird. Meister Mingus dürfte nicht nur Jähzorn im Übermaß, sondern auch eine gehörige Portion feinen Humor besessen haben: Bei der Nummer „My Jelly Roll Soul", einer Art Hommage auf Dixieland hat man das Gefühl, dass Mingus bei aller Wertschätzung für diese Musik es sich nicht verkneifen kann, dennoch mit ihr seinen Spott zu treiben. Da sind alle Ingredienzien des Blues da, aber immer auch noch ein wenig mehr. Und genau dieses Mehr macht diese Aufnahme so gelungen.

Der Kritiker, der Mingus des zu wenigen Swingens geziehen hat, ist Charles Mingus - hoffentlich für ihn - nie persönlich begegnet. Wir aber verdanken dieser – endlich einmal kanalisierten – Wut Charles Mingus, ein wunderbares Blues/Jazz Album, welches sich bedenkenlos auch für den Einsteiger in den Jazz zu hören lohnt. Ein wirklich einmaliges, empfehlenswertes Hörerlebnis.

(Rihnrhi)


Charles Mingus: „Blues&Roots“
Rhino (Warner Vertrieb), 1987.
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