Ekaterina Sedia: "Die geheime Geschichte Moskaus"


Ein Ausflug in die russische Fantastik

Galina hat schon einige Aufenthalte in psychiatrischen Kliniken hinter sich. Ihre Mutter schenkt ihre Aufmerksamkeit lieber der jüngeren Schwester, die nicht nur viel vorzeigbarer ist, sondern auch noch hochschwanger. Doch eines Morgens geht Galinas Schwester ins Bad, und plötzlich schreit ein Kind. Im Bad liegt das Neugeborene mit durchtrennter Nabelschnur, und das Fenster im Bad steht offen - von Galinas Schwester keine Spur. Galina sieht die Dohle auf dem Fenstersims und ist sich sicher, dass es sich bei diesem Vogel um ihre Schwester handelt, doch sie weiß auch, dass ihr das kein Mensch glauben wird.

Der Polizist Jakov wird damit beauftragt, die in letzter Zeit zahlreich verschwundenen Leute zu suchen. Dabei macht er auch Galinas Bekanntschaft, und für diese ist prägend, dass Jakov ungläubiger Zeuge wurde, wie ein Passant sich vor seinen Augen in einen Vogel verwandelte. Ist Galina doch nicht so verrückt, wie alle annehmen?

Diese Frage stellt sich schließlich auch Galina selbst, die einen Künstler namens Fjodor kennen lernt, der behauptet, mehr über die Vögel zu wissen.
Alle Drei durchschreiten schließlich das Tor in eine andere Welt, den so genannten Untergrund, um den Merkwürdigkeiten dort auf die Spur zu kommen.

Witzigerweise vergleicht die Ankündigung diesen Roman mit Neil Gaiman, und Gaimans Urteil "Abgründig, dunkel, außergewöhnlich!" wird dem potenziellen Leser natürlich auch nicht vorenthalten. Witzig daran ist, dass genau dieser Vergleich sich beim Lesen von "Die geheime Geschichte Moskaus" rasch einstellt - allerdings auf nur einer einzigen Ebene. Wie in "Niemalsland" ("Neverwhere") von Gaiman zieht es die Protagonisten hier in den Untergrund, wo Figuren aus Märchen und Mythen auf sie warten und sie begleiten.

Doch wie gesagt: Das war es auch schon mit den Parallelen, so sehr sich der Vergleich auch aufdrängt. Bei Sedia sind es die russischen Mythengestalten, die nach und nach in der Vordergrund rücken, und der Leser macht so die Bekanntschaft mit Rusalkis, Domowoj und trifft auch auf Prominente der Märchenszene wie beispielsweise Väterchen Frost.

Die meisten Leser dürften nicht allzu vertraut mit der russischen Mythologie sein, und allein das ist schon ein Faktor, der den Roman zu etwas Besonderem und Spannendem macht.

Die Erzählweise des Romans ist im Grunde ebenfalls typisch russisch. Die Stimmung ist eine grundsätzlich politische, der Umbruch Moskaus sowie Zu- und Abneigung gegenüber einer bestimmten Stadt, Region und eben deren Bewohnern schwingt ständig mit. Den Protagonisten selbst haftet Antiheldentum und Melancholie an. Und gerade das macht sie zu dreidimensionalen, realistischen Figuren, die für den Leser, ganz egal, wo dieser lebt, eine Menge Identifikationspotenzial bieten.

Gerade für einen Erstling sind Aufbau und Sprache von "Die geheime Geschichte Moskaus" wirklich sehr gelungen, so dass es sich sicherlich lohnt, Ekaterina Sedia als Autorin russischer Fantastik im Auge zu behalten.

(Tanja Thome; 04/2009)


Ekaterina Sedia: "Die geheime Geschichte Moskaus"
(Originaltitel "The Secret History of Moskow")
Ins Deutsche übertragen von Olaf Schenk.
Klett-Cotta / Hobbit Presse, 2009. 326 Seiten.
Buch bei amazon.de bestellen

Lien zur Netzpräsenz der Autorin: https://www.ekaterinasedia.com/.

Weitere Buchtipps:

Grigori Rjaschski: "Moskau, Bel Étage"

Ein Jahrhundert russischer Geschichte durchströmt die Maisonettewohnungen in bester Moskauer Lage. Mit den Machthabern wechseln die Bewohner, nur Rosa Mirskaja, die Frau des Architekten Semjon Mirski, bleibt über all die Jahre mit Herzenswärme, gestärkten Tischdecken und jüdischem Gebäck der ruhende Pol im Leben der Mirskis und ihrer Nachbarn - über alle familiären Krisen und historischen Umstürze hinweg.
Gleich bei den Patriarchenteichen, dort, wo die Geschichte von "Der Meister und Margarita" ihren Ursprung nahm und wo heute Moskaus Neue Mitte erwächst, steht der Inbegriff Moskauer Jugendstils, erbaut von Semjon Mirski, Architekt und angesehenes Mitglied der Akademie der Wissenschaften. Dort wohnt auch der Erbauer selbst mit seiner Frau, Rosa Markowna Mirskaja, in direkter Nachbarschaft zu den hohen Persönlichkeiten der Stadt.
Doch wer angesehen ist und wer nicht, ändert sich mit den Zeitläufen, und so verändert sich auch die Nachbarschaft der Mirskis zwischen den Jahren der Oktoberrevolution und dem Zusammenbruch der Sowjetunion mehrfach. Und auch in der Familie Mirski geraten die jüdischen Traditionen von einer Generation zur nächsten immer mehr ins Wanken, wäre da nicht der beharrliche Wille der Mutter, Groß- und Urgroßmutter Rosa, die mit unendlicher Geduld die Familie zusammenhält.
Angelehnt an die Geschichte der russisch-jüdischen Familie Ginzburg, der er selbst wie auch seine Cousine Ljudmila Ulitzkaja entstammen, entwirft Grigori Rjaschski ein lebendiges Panorama der russischen Gesellschaft im Wandel der Zeiten - in dessen Mittelpunkt Rosa Markowna, erhaben über die Unbill der Geschichte. (Kiepenheuer & Witsch)
Buch bei amazon.de bestellen

Karl Schlögel: "Terror und Traum. Moskau 1937"

Moskau 1937: Die sowjetische Metropole auf dem Höhepunkt der stalinistischen Diktatur. In einem Orkan der Gewalt geht eine Gesellschaft vollständig zugrunde. Karl Schlögel rekonstruiert Monat für Monat, wie sich der Terror eines Notstandsregimes zum "Großen Terror" steigerte, dem binnen eines Jahres anderthalb Millionen Menschen zum Opfer fielen. Doch damit ist noch nicht die ganze Geschichte erzählt: Im Schatten des Terrors will das Regime um Stalin eine neue Gesellschaft aufbauen. Gestützt auf zahllose Dokumente, vergegenwärtigt Schlögel in seinem historischen Meisterwerk eine Zeit, in der Terror und Traum fließend ineinander übergingen. (Hanser)
Buch bei amazon.de bestellen

John E. Bowlt: "Moskau & St. Petersburg. Kunst, Leben & Kultur in Russland 1900-1920"

Die Geschichte Russlands oszillierte durch die Jahrhunderte zwischen Europa und Asien, mit zwei rivalisierenden Städten im Zentrum: St. Petersburg, das nach Westen blickte, und Moskau, mit Blick Richtung Osten. Der Zar wurde in Moskau gekrönt, regierte aber von St. Petersburg aus. Um 1900, kurz vor dem Niedergang des zaristischen Russland, erreichten mit dem "Silbernen Zeitalter" Russlands Kunst, Literatur und Theater eine überwältigende Blütezeit.
Die Synthese aller Künste in den Produktionen von Diaghilevs Russischem Ballett, Stanislavskys bahnbrechende Inszenierungen Tschechows oder Malewitschs revolutionäres "weißes Quadrat auf weißem Feld": Die überwältigende Originalität der russischen Kunst in dieser überaus produktiven Periode, die mit der Sovietära ein jähes Ende fand, erreichte den Westen über die russische Diaspora von Künstlern wie Chagall, Kandinsky, Nijinsky und vielen vielen Anderen. (Brandstätter)
Buch bei amazon.de bestellen

Darja Evdočuk: "Moskau und St. Petersburg. Streifzüge durch die russischen Metropolen"
Moskau und St. Petersburg waren bereits in der Vergangenheit die pulsierenden Zentren russischer Geschichte und Kultur, und sie sind es bis heute. Unzählige Museen und architektonische Meisterwerke laden ein, eine lebendige Kulturszene und ein ausgedehntes Nachtleben ziehen Besucher aus der ganzen Welt an.
Der Reiseführer bietet alle wichtigen Hintergrundinformationen zu Geschichte und Kultur und präsentiert ausführlich alle Sehenswürdigkeiten. Auch die Umgebungen der Städte mit ihren prachtvollen Klöstern und Zarenresidenzen werden vorgestellt.
Zahlreiche Stadtspaziergänge, Tipps zu Unterkünften, Restaurants, Museen sowie U-Bahn-Pläne und viele Stadtpläne machen diesen Reiseführer zu einem praktischen Begleiter. (Trescher Verlag)
Buch bei amazon.de bestellen

Monica Rüthers, Carmen Scheide (Hrsg.): "Moskau. Menschen - Mythen - Orte"

Keine europäische Stadt verändert sich so schnell wie Moskau. Der historisch fundierte und kulturgeschichtlich ausgerichtete Stadtführer zeigt, dass Moskau nicht nur aus goldenen Kuppeln und dem Roten Platz besteht. Wo früher Menschen in langen Schlangen für defizitäre Waren anstanden, glitzern heute die Auslagen der Luxus-Boutiquen. Das Buch schildert die Lebenswelten der Moskauer, die in Gemeinschaftswohnungen aufwachsen und die Erfahrung des Großen Vaterländischen Krieges, von Mangelwirtschaft und langen Nächten am Küchentisch teilen. Es zeigt die russische Hauptstadt und ihre Liedermacher, die Gartenstadt Sokol, und es führt an Erinnerungsorte des sowjetischen Totenkults; Kriegserinnerungen werden in der "Heldenstadt" wachgehalten. Es finden sich auch Wege zu Okkultismus, zur Konsumkultur, zur Stalinarchitektur und zur Geschichte des Plattenbaus, zur Metro, zu den Bahnhöfen und zum Palast der Sowjets. Der Leser kann die Orte der Rockbewegung in der Zeit der Perestroika aufsuchen oder sich auf die Spuren jüdischer Geschichte begeben. Auch die Erinnerung an die politische Verfolgung Andersdenkender wird lebendig. (Böhlau Köln)
Buch bei amazon.de bestellen

Werner Huber: "Moskau - Metropole im Wandel. Ein architektonischer Stadtführer"
Moskau, einst kommunistische Welthauptstadt, entwickelt sich immer mehr zu einer modernen, schillernden kapitalistischen Metropole. Das Fundament, auf dem sich dieser Wandel abspielt, ist das sowjetische Moskau, welches von Stalin, Chruschtschow und Breschnew geprägt ist. Der architektonische Stadtführer zeichnet die Entwicklung der Stadt von den mittelalterlichen Ursprüngen bis heute nach. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Zeit nach 1935, als der "Stalin-Plan" die Entwicklungsrichtung der sowjetischen Hauptstadt festlegte. Thematisch gegliederte Kapitel wie "Moskau um 1935", "Massenwohnungsbau" oder die "Fassade einer Weltmacht" stellen die wichtigen Bauten und Ensembles in den Zusammenhang der politischen und wirtschaftlichen Hintergründe ihrer Entstehungszeit. Die tiefgreifenden Veränderungen der Zeit nach 1991 bilden den Schlusspunkt des Buches und sind zugleich Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Moskauer Bauwesen der Gegenwart. Zahlreiche historische und zeitgenössische Fotos und Pläne reichern die kurzen, leicht verständlichen Texte an. Sie zeigen den Wandel der Stadt in all seinen Facetten und erweitern das Zuckerbäcker- und Zwiebelturm-Bild, das herkömmliche Reiseführer vermitteln. Wer weiß, wie sich Moskau als Zentrum des sowjetischen Imperiums entwickelt hat, versteht, was die russische Hauptstadt heute ist - und kann abschätzen, wie sie sich in Zukunft weiter wandeln wird. (Böhlau Köln)
Buch bei amazon.de bestellen

Warlam Schalamow: "Durch den Schnee. Erzählungen aus Kolyma 1"
Schalamows Erzählungen gehören zu den herausragendsten Leistungen der russischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Der Autor geht darin einer Schlüsselfrage unserer Gegenwart nach: Wie können Menschen, die über Jahrhunderte in der Tradition des Humanismus erzogen wurden, Auschwitz, Kolyma hervorbringen? Schalamow zieht den Leser der "Erzählungen aus Kolyma", deren erster Zyklus in diesem Buch versammelt ist, in die Gegenwart des Lageralltags hinein, ohne Hoffnung auf einen Ausweg:
"Viele Kameraden sind gestorben. Aber etwas, das stärker ist als der Tod, ließ ihn nicht sterben. Liebe? Erbitterung? Nein. Der Mensch lebt aus denselben Gründen, aus denen ein Baum, ein Stein, ein Hund lebt." (Matthes & Seitz)
Buch bei amazon.de bestellen

Warlam Schalamow: "Linkes Ufer. Erzählungen aus Kolyma 2"
Mit "Linkes Ufer" wird die Werkausgabe von Warlam Schalamow fortgesetzt.
Die "Erzählungen aus Kolyma", deren zweiter Zyklus in der Übersetzung von Gabriele Leupold hier veröffentlicht wird, sind Weltliteratur.
Warlam Schalamow, 1907 im nordrussischen Wologda als Sohn eines orthodoxen Geistlichen geboren, ging 1924 nach Moskau, um dort "sowjetisches Recht" zu studieren. 1929 wurde er wegen "konterrevolutionärer Agitation" (Artikel 58) zu Lagerhaft im Ural verurteilt. 1931 kehrte er nach Moskau zurück, wo er 1937 zum zweiten Mal verhaftet wurde. Es folgte die Deportierung in die Kolyma-Region um den gleichnamigen Fluss im Nordosten Sibiriens. 1956 durfte er nach Moskau zurückkehren, wo er 1982 starb. (Matthes & Seitz)
Buch bei amazon.de bestellen

Nina Lugowskaja: "Ich will leben"
Was bewegt ein junges Mädchen im Moskau der 1930er-Jahre? Der ganz normale Alltag mit Liebeskummer, Schulproblemen und Weltschmerz findet auch in Stalins Sowjetunion statt. Die Politik jedoch macht nicht vor der Haustür halt. Die Angst vor einer Verhaftung des Vaters lässt Nina zu einer scharfsinnigen Kritikerin des stalinistischen Regimes werden. Ihre kompromisslosen Notizen werden ihr schließlich zum Verhängnis: Mit 18 Jahren wird sie verhaftet und für fünf Jahre in ein Arbeitslager geschickt. Ihre Tagebücher sind eine wichtige Ergänzung zur offiziellen Geschichtsschreibung.
Nina Lugowskaja wurde 1918 in Moskau geboren. Mit dreizehn Jahren begann sie ihre Tagebuchaufzeichnungen, die bis 1937 reichen, als man sie und ihre Familie nach Kolyma deportierte: Der sowjetische Geheimdienst warf Nina vor, ein Attentat auf Stalin geplant zu haben. Sie überlebte das Arbeitslager und heiratete einen ehemaligen Strafgefangenen. Später arbeitete sie als Malerin und Bühnenbildnerin und starb 1993, ohne je nach Moskau zurückgekehrt zu sein. (dtv)
Buch bei amazon.de bestellen

Michail Ryklin: "Kommunismus als Religion. Die Intellektuellen und die Oktoberrevolution"

Die Bolschewiki inspirierte der Glaube - eine Art weltliche Religion - an die Möglichkeit einer radikalen Umgestaltung der rückständigen bäuerlichen Gesellschaft. Von Anfang an erklärten sie der Orthodoxie den unversöhnlichen Krieg, installierten ein System von kommunistischen Riten und betrieben eine effektive Propaganda der Errungenschaften des neuen Regimes. Zentrum des sowjetischen Kultus wurde das Leninmausoleum: dort liegt bis zum heutigen Tag der einbalsamierte Leichnam des toten Parteiführers.
In den 1930er-Jahren kommt es zu seiner Vergöttlichung, wird im Recht die "Schuldvermutung" eingeführt, in der Kunst ein einheitlicher Stil (der Sozialistische Realismus) verordnet und der Sowjetpatriotismus eingepflanzt.
Keine weltliche Religion des 20. Jahrhunderts kann sich in ihrer Anziehungskraft für die Intellektuellen mit der kommunistischen (Raymond Aron nannte sie das "Opium für die Intellektuellen") vergleichen. Die Gründe dieser Verzauberung zu klären ist die wichtigste Aufgabe des Buches. Was am ursprünglichen revolutionären Glauben und seiner Kultur erschien Walter Benjamin, André Gide, Lion Feuchtwanger, Bertolt Brecht und vielen Anderen als ungewöhnlich wertvoll und sogar einzigartig?
Michail Ryklin zeichnet die Konturen des kommunistischen Glaubens, die Funktionsweise des Kommunismus als Religion nach. (Verlag der Weltreligionen)
Buch bei amazon.de bestellen

Evelyn Scheer, Andrea Hapke: "Moskau und der Goldene Ring. Altrussische Städte an Moskva, Oka und Volga"
Moskau mit dem Kreml und den mächtigen Kirchen zieht seit jeher Reisende in ihren Bann. Die altrussische Baukunst, die die wechselvolle Vergangenheit Russlands widerspiegelt, prägt auch die Städte im "Goldenen Ring" rings um die Hauptstadt. Entlang der Oka und der Volga haben sich mittelalterliche Festungsanlagen und Handelsstädte zu Kunstzentren entwickelt, die mit herrlichen Bauwerken und Kirchenschätzen beeindrucken.
Der Reiseführer bietet neben detaillierten Informationen zu Geschichte und Gegenwart Russlands umfangreiche praktische Reiseinformationen. (Trescher Verlag)
Buch bei amazon.de bestellen

Heike Maria Johenning: "Moskau"
Die Stadt, die einmal Mongolenstolz, Zarenhochburg und Welthauptstadt des Kommunismus war, ist heute eine pulsierende asiatisch-europäische 10-Millionen-Metropole. Neben dem bekannten Moskau mit Kreml, Rotem Platz, Tretjakow-Galerie und Neujungfrauenkloster wird auch das unbekannte beleuchtet: Teeclubs, Wohnhausmuseen, Stadtstrände, Galerien und Souvenirgeschäfte für Sowjetnostalgiker. Auch Orte, die bislang in keinem deutschsprachigen Moskau-Führer zu finden sind, werden wieder lebendig: Lenins Landsitz, die Revolutionsdruckerei von 1905 und das Lomakow-Oldtimer-Museum.
Sieben Stadtspaziergänge führen zu den kulturellen Höhepunkten, praktische Tipps und ein Internetverzeichnis mit über 70 Liens erleichtern die Orientierung im russischen Reisealltag.
Architektonische Rundgänge erschließen das Erbe der russischen Revolutionsarchitektur (1920er-Jahre), des Moskauer Jugendstils und der Stalin-Monumentalbauten und zeigen die unterschiedlichen Facetten einer Weltstadt mit fast 900-jähriger Geschichte. (Reise Know-How Verlag Peter Rump GmbH)
Buch bei amazon.de bestellen

Matthias Schepp: "Gebrauchsanweisung für Moskau"
Matthias Schepp kennt die Machtspiele im Kreml genauso gut wie die in Moskaus Eishockeyteam. Er erzählt von Künstlern und Neureichen, vom Mythos Datscha, einem Abend im prächtigsten Restaurant Europas und der schönsten Metro der Welt.
Moskau für Einsteiger und Fortgeschrittene: Matthias Schepp zeigt uns, wie Russen ihre Kinder erziehen. Welche Geheimnisse auf dem Roten Platz zu entdecken sind. Warum der Straßenverkehr wie ein Brennglas den Charakter der Moskauer aufscheinen lässt. Worin sich die heiße Club- und Diskoszene von der in Barcelona oder Berlin unterscheidet. Wie die Moskauer heiraten und wie sie ihre Toten ehren. Wie sich die Stadt zwischen Stalin-Wolkenkratzern, Platten­bauten und Adelspalästen neu erschafft. Warum Inseln und Schlösser auf Moskaus Millionärsmesse der Renner sind. Wie die orthodoxe Kirche ihre Macht ausübt. Was man beim Wodkatrinken wissen sollte und weshalb Sie in der Banja, der russischen Sauna, unbedingt einen Filzhut tragen müssen. (Piper)
Buch bei amazon.de bestellen

Valeria Jäger, Erich Klein (Hrsg.): "Europa erlesen. Moskau"
Moskau - das ist der Kreml. Die russische Literatur aber, in und über Moskau, schreibt gegen den Kreml, den gordischen Knoten der russischen Seele, an. Seit Jahrhunderten beschäftigt die Burg am steilen Ufer der Moskwa mit ihren roten Ziegelmauern, Zinnen und Türmen Russen wie ausländische Betrachter.
Das wirkliche Moskau ist natürlich alles Andere - außer dem Kreml. Moskau - das sind die Küchen und Hinterhöfe, die weiten Prospekte, die im Jännerfrost erstarrten Rauchfahnen quer über den Himmel, oder der Flug der Pappelsamen im Juli, der die Stadt in einen besinnungslosen Taumel versetzt, dem sich keiner, der ihn einmal erlebt hat, je wieder entziehen kann. Selbst der Kreml erscheint dann fast menschlich - ein mächtiges und trauriges Verlies.
Mit Beiträgen von: Anna Achmatowa, Michail Aisenberg, Genadij Ajgi, Andrej Bely, Walter Benjamin, Napoleon Bonaparte, Bertolt Brecht, Joseph Brodsky, Michail Bulgakow, Lewis Carroll, Giacomo Casanova, Velimir Chlebnikov, Wladislaw Chodassjewitsch, Igor Cholin, Simone de Beauvoir, Astolphe de Custine, Antoine de Saint-Exupéry, Ilja Ehrenburg, Assar Eppel, Egon Erwin Kisch, Lion Feuchtwanger, Max Frisch, Sergej Gandlevskij, Gabriel García Márquez, André Gide, Nikolai Gogol, Natalja Gorbanjewskaja, Wassilij Grossman, Boris Groys, Alexander Herzen, Hugo Huppert, Ilja Ilf und Jewgeni Petrow, Wsewolod Iwanow, Wenedikt Jerofejew, Viktor Jerofejew, Sergej Jessenin, Jewgeni Jewtuschenko, Wolfgang Koeppen, Nikolai Koljada, Pjotr Kropotkin, Michail Lermontow, Wladimir Majakowskij, Ossip Mandelstam, Rainer Maria Rilke, Wsewolod Nekrassow, Pablo Neruda, Adam Olearius, Jurij Olescha, Alexander Ostrowskij, Boris Pasternak, Boris Pilnjak, Alexander Pjatigorskij, Andrej Platonow, Jewgenij Popow, Dmitri Prigow, Alexander Puschkin, Wassilij Rosanow, Genrich Sapgir, Olga Sedakowa, Claude Simon, Alexander Sinowjew, Jan Skacel, Sigismund zu Herberstein, Boris Slutzkij, Alexander Solschenizyn, Vladimir Sorokin, Wladislaw Todorow, Alexej Tolstoi, Leo Tolstoj, Anton Tschechow, Lydia Tschukowskaja, Andrej Turkin, Filofej von Pskow, Ruth von Mayenburg, Wladimir Woinowitsch, Wladimir Wyssotzkij, Stefan Zweig, Marina Zwetajewa. (Wieser Verlag)
Buch bei amazon.de bestellen

Leseprobe:

2. Jakov

Jakov hatte noch nie leiden können, wie er aussah. Irgend wie zu gewöhnlich, da war nicht einmal der Hauch des englischen Gentleman, den vorzustellen er eigentlich von sich erwartete. Von jeder spärlichen Linie seines kleinen, spießigen Körpers bis hin zum letzten borstigen Haar auf seinem Haupt schrie sein Anblick der Welt entgegen: 'Seht her, ein russischer Bauer!' Die Reaktion der Welt darauf war ungehalten, und sie stieß ihn von sich. In Moskau zeigte sich dieses Stoßen besonders heftig.

"Limitschik" - so nannte man Leute wie ihn. In Moskau zu wohnen war den Moskowitern vorbehalten sowie einer begrenzten Zahl von Zugezogenen. Geborene Moskowiter betrachteten die Zugezogenen herablassend und mit Abscheu, was Jakov überrascht hatte, als er, mit gerade zehn Jahren, hergekommen war. Zwanzig Jahre später schien der Hass sich nicht vermindert zu haben. Allmählich vermutete er, dass er niemals zum Eingesessenen werden würde.

Jakov stand in Unterhose und Feinripp vor dem Fenster und schaute auf die Pappel, die nicht ganz bis zu ihm an den sechsten Stock heranreichte. Obendrauf war ein Krähennest, und der aufkommende Wind schwenkte es hin und her. Jakov machte sich Gedanken über die Sicherheit der beiden jungen Krähen im Nest. Die Eltern waren nirgends zu sehen, und die Jungen quäkten, als die ganzen Zweige und Äste und gelegentlichen Büschel mit dem Wipfel vor und zurück geschaukelt wurden. Jakov fragte sich, ob den kleinen Vögeln wohl schlecht würde. Was sie im September noch im Nest machten?

"Jascha!" , rief seine Mutter aus der Küche. "Frühstück!"

Er zog sich die an den Knien ausgeleierte Trainingshose mit den ausgewaschenen roten Streifen hoch. In seinem Leben waren zu viele Sachen rot und ausgewaschen - eine davon, in Gestalt des Morgenmantels seiner Mutter, ging mit der verzweifelten Energie eines Uhrwerks zwischen Herd und Küchentisch hin und her.

"Nur die Ruhe, Mama", sagte Jakov und tätschelte der alten Frau die Schulter. Er betrachtete sie stets als alt, und an ihren Geburtstagen war er immer erschrocken, wenn ihm aufging, dass sie kaum fünfzig war. "Heute ist Sonnabend, kein Grund zur Hektik."

"Ich wollte mich noch mit Lida treffen, wir gehen zum Friedhof", sagte sie. "Deine Großeltern besuchen. Und die Gräber müssen auch gesäubert werden, bei dem vielen Laub."

"Es ist Herbst. Morgen fällt wieder was drauf."

"Gräber muss man sauber halten", gab sie störrisch und knapp zurück. "Iss!"

"Warte nicht auf mich. Mach du nur, was du meinst."

Sie seufzte. "Kommst du denn zurecht?"

"Na klar doch." Er brauchte sich nicht aufzuregen. Sie machte sich ständig Sorgen, diese Angewohnheit würde sie nicht mehr los. Geduld , sagte er zu sich. Du bist jetzt hier der Erwachsene, auch wenn sie es nicht bemerkt . "Geh nur, mach das. Viel Spaß. Mit den Gräbern."

Sie verzog das Gesicht. "Man muss sich um die Toten kümmern."

Er wusste, dass streiten keinen Sinn hatte. Dass es keinen Sinn hatte, ihr zu erklären, dass sie die Einzige war, der diese endlose, undankbare, sinnlose Schufterei auf dem Friedhof Trost spendete. Den Toten war das egal. Jakov trank seinen Tee.

Seine Mutter zog sich in ihr Zimmer zurück, klapperte mit den Schranktüren und schob Polyestersachen hin und her. Er schmierte sich ein Brot mit Butter und dicken, stark riechenden Käsestückchen voller Löcher. Hoffentlich war er bald allein, dachte er und schämte sich dafür.

Sie kam, bewehrt mit geblümtem Stoff und strengen, schwarzen Schuhen in die Küche. "Es würde dich nicht umbringen, deine Großeltern einmal zu besuchen."

Großeltern. An seine Oma konnte er sich schwach erinnern, an seinen Großvater überhaupt nicht. Seine Mutter ebenso wenig. Sie wusste nur, dass er Engländer war. Dann gab es noch halb vergessene Geschichten und Schlussfolgerungen, aber sicher war allein seine Nationalität. Die und die Tatsache, dass er sechs Monate lang, zwischen Mai und November 1938, als englischsprachiger Korrespondent beim Radio gearbeitet hatte. In dieser kurzen Zeit hatte er Oma geheiratet und geschwängert und war prompt exekutiert worden - oder, wie sie es unter Chruschtschow nannten, der Repression zum Opfer gefallen. Keiner wusste so genau, was da in dem Grab mit seinem Namen drauf verscharrt lag und wie es dorthin gekommen war, aber so neugierig war man nun auch wieder nicht.

"Ich bleibe heute lieber zu Hause, Mama", sagte er. "Vielleicht nächste Woche. Dann können wir auch in die Kirche gehen, wenn du willst." Sie besänftigen, eine sofortige kleine Unannehmlichkeit gegen eine größere tauschen, die aber erst später kam. Clever.

"Wir schauen mal, Jascha." Es wirkte. "Ich bin bald wieder da."

Er trank den inzwischen erkalteten Tee aus und fand sein Fernglas. So konnte er die weit aufgerissenen, mit Eidotter umrandeten Schnäbel in stillem Gekreisch sehen.

Der Wind wurde stärker. In gelben Wirbeln blies er die Blätter aufwärts und ließ sie dann wieder zu Boden sinken. Er wehte durch das trockene Gras auf der Brachfläche hinter der Kinderkrippe, die man von Jakovs Fenster aus sehen konnte, er pfiff durch die leeren Flaschen, die zwischen den abblätternden Bänken herumlagen, zerrte am Fell der Hunde, die durch den getrockneten Schlamm und die Heubüschel in diesem Niemandsland rannten, und ihre Herrchen klappten die Krägen hoch und zündeten sich Zigaretten an, die kleinen Streichholzflammen in der Handfläche geborgen, fachmännisch die Schultern als Puffer gegen den Wind gestellt.

Jakov beobachtete einen jungen Mann, der einem schottischen Terrier nachlief. Der Hund, ein einziges verschwommenes Gewusel, rannte im Kreis und entwischte mit Leichtigkeit seinem Besitzer, obwohl seine kurzen Beine unter dem zotteligen Fell kaum zu sehen waren. Dem jungen Mann flatterte die Jacke, als er dem Hund hinterherjagte , schimpfend seinen Namen rief. Ein Windstoß erwischte ihn im Rücken, brachte ihn in linkisches Stolpern und warf ihm die Jacke über den Kopf. Der Mann wollte sich davon befreien, mühsam wand er sich und schlug mit den Armen, da kam ein neuer Windstoß und hob ihn in die Luft. Jakov ging dichter ans Fenster, so ganz traute er seinen Augen nicht, aber er war viel zu zufrieden über diesen Sonnabend alleine, als dass er wirklich überrascht oder gar erschreckt war. Die Arme des Mannes bewegten sich schneller, die Jacke wurde länger. Seine Füße schrumpften vom Boden weg, wurden zu winzigen Vogelklauen, und er schwebte, halb Mensch, halb.

Jakov beobachtete die anderen Leute und Hunde, aber niemand schien besorgt zu sein oder das seltsame Verhalten des jungen Mannes auch nur zu bemerken. Nur der Terrier hörte auf zu rennen und setzte sich hin, legte den Kopf fragend schief und verfolgte irgendetwas hoch oben in der Luft. Und dann fiel Jakov auf, dass der junge Mann fort war, und nur eine Krähe flatterte über dem leeren Grundstück mit den Flügeln, verfolgt von einem jaulenden schottischen Terrier, der seine Leine durch den Schlamm zog.

An Montagen hatte er immer so ein Unwohlsein und ein Zerren in der Brust und das Verlangen, sich tief in seine Kissen zu vergraben und einfach zu schlafen. Stattdessen stand er um fünf Uhr morgens auf und ging zur Arbeit. Der Bus war besetzt mit schläfrigen Bürgern, die zu dieser gottlosen Stunde, da die Seele, noch sanft vom Schlaf, anfällig gegen Licht, Lärm oder ein unfreundliches Wort war, niemandem ins Auge sehen wollten. Jakov stellte sich wie seine Landsleute schlafend und verbarg das Gesicht im aufgestellten Kragen seiner Uniform.

Sobald er die Augen schloss, wehte ein Wind, und Jacken drehten sich auf links, Hunde bellten und Krähen krächzten. Diese Szene, die er beobachtet hatte, konnte er einfach nicht einordnen, und er beschloss, sie als Halluzination oder obskure optische Täuschung abzutun. Er verscheuchte den Gedanken und lenkte sich ab, indem er sich um eine der Krähen kümmerte. Sie war aus dem Nest gefallen, und Jakov hatte die Nacht und den ganzen Sonntag damit verbracht, abwechselnd den Vogel zu versorgen und seine Mutter zu überzeugen, dass Krähen einem nicht die Augen auspicken. Jetzt musste er lächeln, als er an die im Kreis verlaufende Argumentation dachte. (...)

zurück nach oben