Thomas Lang: "Am Seil"


Wenn ein Mann wirklich erwachsen werden will, reif für die echte Beziehung zu Frauen und erst recht reif für die Gründung einer Familie und die Übernahme einer Vaterrolle, dann muss er sich mit seinen eigenen Eltern auseinandergesetzt haben. Er muss sich lösen von den alten Themen der Kindheit und zu einer eigenständigen Persönlichkeit reifen, einer Persönlichkeit, die sich zwar durchaus der elterlichen Prägungen im Negativen, aber auch im Positiven, bewusst ist, sich dennoch von der jahrzehntelangen Mode löst, alles, was im eigenen, erwachsenen Leben schiefgeht und misslingt, auf die schlechte Erziehung der Eltern zu schieben. Im besten Fall sollte sich ein solchermaßen gereifter Mann mit seinen Eltern aussöhnen und versuchen, eine neue Basis der Beziehung zu finden, jenseits gegenseitiger Vorwürfe und Versäumnisse.

Dem Protagonisten von Thomas Langs preisgekröntem Roman "Am Seil", Gert, ist das leider nicht gelungen. Mittlerweile fast 50 Jahre alt, wirft er seinem Vater immer noch dessen Erziehungsstil vor:
"Haltung ist etwas Beschissenes. Die Sache ist doch die, dass wir immer wieder falsch liegen, immer aufs Maul fallen, egal, was wir tun. Wir wissen einfach nicht gut genug Bescheid, um unser Leben hinzukriegen - ich jedenfalls nicht."

Klar, dass er mit einer solchen Lebenseinstellung scheitert, in seiner beruflichen Tätigkeit und in seinen Beziehungen. Eigentlich eher durch einen Zufall zu seinem Job gekommen, ist Gert viele Jahre als Fernsehmoderator erfolgreich, erlebt sich selbst dort aber keineswegs als identisch. Wie auch - mit solch ungelösten Lebensfragen. Ein sexueller Übergriff auf seine Assistentin beendet seine Fernsehkarriere jäh. Als bei einem Verkehrsunfall seine blutjunge Geliebte, sie ist gerade mal 18 Jahre alt, ums Leben kommt, ist sein Elend perfekt.

Sein Vater, Bert, ehemaliger Lehrer, geschieden, lebt seit einiger Zeit im Altersheim. Wie sich später herausstellt, hat er eine Menge Geld auf der hohen Kante, leidet aber an einer schlimmen Krankheit (wohl Chorea Huntington), und ist  seines Lebens müde. Sein einziger Lichtblick ist die Altenpflegerin Pauline Bubi, die sich rührend um ihn kümmert, und in die er auf seine Weise verliebt ist. Als er jedoch von ihr erfährt, dass sie die Kündigung erhalten hat (besteht ein Zusammenhang damit, dass sie vor einiger Zeit dem Mitpatienten Vornegger die Magensonde entfernt hat?), bricht für Bert alles zusammen. Er will nur noch sterben.

Als ihn sein Sohn Gert völlig überraschend im Altersheim besucht, fasst er sofort einen stillen, einsamen Entschluss. Zwar zweifelt er, ob Gert in der Lage ist, ihm zu helfen. Denn er hatte nie eine gute Meinung von ihm:
"Warum hat Gert nie wirklichen Biss und Entschlossenheit entwickelt? Als er laufen lernte, schien er hartnäckig und zielstrebig, immer wieder stand er auf, fiel auf die Nase, erhob sich. Damals dachte Bert, das wird einer, der weiß, was er will. Aber der Junge wurde immer zimperlicher. Schon mit vier versuchte er, alles übers Heulen zu bekommen. Da kannst du gar nichts machen. Es ist eine Charaktersache. Marlen hat das gefördert, leider, aber sie ist auch nicht eigentlich schuld."

Und er hat ihn wohl auch viel zu schnell fallen lassen. Nicht umsonst ist Gert so orientierungslos geblieben. Aber, wie gesagt, er hat sich auch nie auseinandergesetzt, sondern immer nur "geheult".

Bert und Gert fahren zu dem alten Hof, wo Gert ausgewachsen ist, und den Bert noch nicht verkaufen konnte. Und dort spitzt sich, mit meisterhafter Prosa erzählt, der niemals gelöste Vater-Sohn-Konflikt zu - und am Ende hängen beide "am Seil".

Auf die Idee, dass sie etwas Starkes, Lebendiges verbinden könnte, trotz oder gerade wegen der problematischen Vergangenheit, ist keiner von beiden gekommen. Vater und Sohn sind so in ihr individuelles Elend verstrickt, dass sie nur noch im Tod Erlösung wähnen.

Ein düsteres Buch, das für mich beim Lesen zu einem Symbol für die eingangs erwähnte Weigerung wurde, erwachsen zu werden und sich seiner Vergangenheit zu stellen, um dann etwas Eigenes auf die Beine zu heben.

Ich glaube, dass viele Probleme in Beziehungen und deren Scheitern ursächlich mit diesem Thema zu tun haben: der verweigerten oder aus Angst verdrängten, für das Erwachsenwerden aber absolut notwendigen Auseinandersetzung mit Vater und Mutter.

(Winfried Stanzick; 02/2006)


Thomas Lang: "Am Seil"
C.H. Beck, 2006. 174 Seiten.
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Thomas Lang, geboren 1967 in Nümbrecht (NRW), studierte Literatur in Frankfurt am Main. Seit 1997 lebt er als Autor in München. 2002 erschien der Roman "Than", ausgezeichnet mit dem "Bayerischen Staatsförderungspreis" und dem "Marburger Literaturpreis". 2005 erhielt Thomas Lang den "Ingeborg-Bachmann-Preis" für einen Auszug aus dem Roman "Am Seil". "Am Seil" wurde nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse 2006.

Weitere Bücher des Autors:

"Unter Paaren"

Zwei Tage und eine Nacht im Mai in einem aufwändig renovierten Haus am Waldrand: Per und seine Freundin Rafa, erfolgreich und mittleren Alters - Per sucht allerdings gerade eine neue Stelle, und Rafa wohnt nicht bei ihm -, erwarten den Besuch von Pascal, Pers bestem Freund aus früheren Zeiten, und seiner Begleitung, der deutlich jüngeren Spanierin Inita. Es gab einmal eine Situation, in der sich Rafa zwischen Pascal und Per entscheiden musste und Per gewählt hat. Allerdings erfuhr Per nie, was sich wirklich zwischen Rafa und Pascal abgespielt hat. Jetzt bricht alles wieder auf, treten alte Spannungen zutage und kommen neue hinzu, etwa Pascals Angebote an Rafa und Pers Lust auf die kühle, sehr anziehende Inita. Die zwei Tage dort im Haus werden alles auf den Kopf stellen, ein Junge, der sich immer in der Nähe herumtreibt, wird von sich reden machen und Inita verschwinden ...
In seinem subtil erzählten und raffiniert auf zwei Zeitebenen arrangierten Roman schafft Thomas Lang eine Art Laborsituation, er stattet seine Figuren mit dem Sprachgebrauch des Bescheidwissens aus und überantwortet sie einer umso größeren Unwissenheit. Spannend und dicht, atmosphärisch und präzis erzählt "Unter Paaren" von Affären und Beziehungen, von der Liebe in der Jetztzeit, von der Macht der Dingwelt und der Ohnmacht fremd gewordener Gefühle. Ein anspielungsreicher Roman, der eine ganze Tradition anklingen lässt, von den "Wahlverwandtschaften" bis zu Mike Nichols’ Film "Hautnah". (C.H. Beck)
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"Than"

Auf einer Insel, zwischen Wasser und Eis, werden Menschen zu Spukgestalten, während bedrohliche Dinge geschehen, von dem stummen Than wie von einer Kamera registriert.
"Than" ist die Geschichte eines Stummen, der in einem kalten Winter auf eine kleine Insel im Süden Deutschlands kommt. Der Postbote, die Wirtin, der Maler und der Jäger lassen den Mann, der auf Fragen keine Antworten gibt und offenbar eine heimliche Affäre mit der Töpferin hat, nicht aus den Augen. Than selbst beharrt auf seiner Perspektive als stummer Betrachter. Auf einer Eisbahn neben dem See gerät ein Traktor außer Kontrolle. Ein Junge ist im See verschwunden, ein Mädchen bricht auf dem Eis ein. Wo immer ein Unglück geschieht, ist Than vor Ort.
Als er einer Spur von verwüsteten Kassettenbändern folgt, die im Garten der Töpferin in den Bäumen hängen und zu einer geheimnisvollen Entdeckung führen, scheint sich Thans Rolle zu klären. Doch genau dieses beruhigende Gefühl, etwas sicher zu wissen, verwehrt uns Thomas Lang. Eine rätselhafte Wirklichkeit, konstruiert in sehr sicherer Sprache. (Wagenbach)
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Leseprobe:

(...) Sein Rücken wird rund, er spürt seine Wirbelsäule förmlich zusammensacken. Die Frau hinter der Theke ist in etwa so alt wie er, es gibt keinen Grund zur Überheblichkeit. Wanda scheint schon wieder besänftigt. Das ist nicht professionell! Professionell wäre, ihn sachlich und bestimmt in seine Schranken zu weisen. Wenn er es noch einmal zu tun hätte, würde er mit dem Deckel in ihr Dekolletee zielen. Also hat sich seine Wut noch nicht gelegt. Großspurig knüllt er den Zettel zusammen und stopft ihn in seine Hemdtasche.
Die Empfangsfrau himmelt ihn schon wieder an. Sie scheint eine Entschuldigung für sein Verhalten gefunden zu haben. Nein, es ist schlimmer: Sie kennt ihn. Ohne Scham bekennt sie sich als langjähriger Fan seiner Show. Es ist ihm unangenehm. Frauen ihres Alters, auch zehn, fünfzehn Jahre darüber, bildeten die Zielgruppe. Immer wenn eine davon ihn anspricht, beginnt er sich innerlich zu winden. Immer denkt er, dass sie gleichzeitig ganz genau wissen, warum seine Show abgesetzt wurde. Am liebsten würde er sich für seinen eigenen Doppelgänger ausgeben. (Auch das hat er schon probiert, und es hat nie funktioniert.)
Sie möchte ein Autogramm. Die Zeiten, in denen er vorsignierte Karten mit seiner grinsenden Fresse dabeihatte, sind lange vorbei. Er will außerdem keine Autogramme mehr geben, er will nicht mehr erkannt werden. Von ihr nicht und auch von sonst keinem. Ein zweiter Impuls mischt sich in diesen einen, das Gefühl, etwas wieder gutmachen zu wollen. Er beschließt, es schnell hinter sich zu bringen. Hektisch lässt er seine Hände durch die Taschen seiner Jacke fingern. Nicht nötig, Wanda hält ihm bereits einen Filzschreiber hin. Sie klatscht in die Hände, als er ihn nimmt. Zu Hause hätte sie ein Foto. Ihre Schwester hat es aufgenommen, als sie Zuschauerin im Studio war. Wanda würde viel darum geben, es jetzt dabeizuhaben. Aber wer konnte ahnen, dass sie ihm hier begegnen würde. Sie hat Gerts Vater schon mehrfach gefragt, ob sein Sohn nicht einmal zu Besuch komme, aber der antwortete immer ausweichend. Eilig kramt sie ein Notizbuch aus ihrer Escada-Tasche. Könnte auch ein Kalender sein. Nein. Nein, das geht zu weit. Am Ende soll er noch ihren Personalausweis unterschreiben. Gert reißt die Kappe von dem Stift, auch sie segelt durch die Luft auf den Fußboden, und kritzelt eilig sein aus wenigen Strichen bestehendes Autogramm auf die hell lackierte Ablagefläche der Theke. Das in Wandas Gesicht zurückgekehrte Lächeln bleibt stehen, doch es mischt sich mit Verblüffung.
Im Gehen nimmt er noch wahr, wie sie einen Knopf drückt. Er sieht es nicht direkt, er deutet die Spannung ihrer Schulter und die Bewegung ihres Oberarms. Was mag sie nun denken von dem Mann, der dafür bekannt war, dass er die höflichsten Gags der Republik machte? Soll sie denken, was sie will! Er ist vor aller Augen so tief erniedrigt worden, da spielen läppische Episoden wie diese keinerlei Rolle mehr. Es ist doch nichts als ein gespielter Witz der nicht ganz korrekten Art. Doch Gert spürt selbst, dass das nicht stimmt. Es ist ihm peinlich, und zwar besonders die Tatsache, dass es wieder nicht glatt ging.
Es war ja keine Absicht, dass die Stiftkappe durch die Luft flog, es war ein Malheur. An sich unbedeutend, stünde es nicht beispielhaft für eine ganze Kette von Pannen, die sein gesamtes Leben prägten. Er zieht Missgeschicke an, wie Scheiße die Fliegen. Das ist immer noch der beste Ausdruck! Mit Scheiße fing es auch mal an, soweit er sich erinnert. Es war im ersten Schuljahr, da lag ein Hundehaufen auf seinem Weg, nah beim Eingang zur Schule. Es hatte schon geläutet, er rannte, aber den Haufen sah er bereits von weitem und wollte ihm weiträumig ausweichen. Leider rutschte bei dem großen Schritt seine Tasche von der Schulter (allerdings, er hatte nur einen Tragriemen angezogen, der andere baumelte) und brachte ihn aus dem Gleichgewicht. Batz trat er mittenrein und musste mit stinkendem Schuh in die Klasse, wurde von der Lehrerin schnell ermittelt und durfte unter dem Gelächter der anderen an einem Waschbecken neben der Tafel die Kacke aus der Sohle waschen. Er musste beide Schuhe reinigen, auch den nicht betroffenen. Es ging sein Leben lang so weiter. Ausgeleierte Reißverschlüsse, falsche Züge, verlogene Flittchen, ein Schlamassel von über vierzig Jahren Dauer. In der Summe sind es die Kleinigkeiten, die einen zerrütten, Sachen, die jeden Tag passieren, weil sie jeden Tag passieren können.
Am anderen Ende der Lobby tauchen zwei Pfleger auf. Sie bleiben dicht beieinander stehen und unterhalten sich flüsternd. Dabei glotzen sie ihn unverhohlen an. Verwirrt und mit heißem Kopf geht er über den blank polierten Natursteinboden auf die beiden zu. Er muss an ihnen vorbei, wenn er nicht wieder rausgehen will. Sie werden ihn nicht ansprechen. Bitte! Gerts Blick haftet auf einer Wandverkleidung. Vogelaugenahorn, wahrscheinlich ein Furnier, vielleicht sogar eine Imitation, dahinter Spanplatte. Alles wird jetzt auf edel getrimmt, auch wenn es ganz gewöhnlich ist.
Kaum hat er die Lobby verlassen, spürt er seine Erschöpfung. Er hat keine Lust weiterzugehen. Was erwartet ihn hinter der nächsten Ecke? Obwohl er nicht daran glaubt, dass eine höhere Hand gibt und nimmt, belohnt oder straft, besteht er darauf, das nicht verdient zu haben. Auch wenn er heute weiß, dass es Scheiße war, hat er über Jahre hinweg den Leuten doch etwas gegeben. Sie mochten seine Gags (die er nicht selber schrieb), fünfmal die Woche schalteten sie ein - nie ist die Quote eingebrochen. Er muss sich nicht verachten für das, was er getan hat. Doch es fällt ihm schwer. Wie einen kleinen Pickel hatte er eines Tages den Verdacht entdeckt, bloß ein Hampelmann und Schleimer zu sein; schnell wurde ein Furunkel daraus. Schließlich war er da nur so reingeschlittert, man hatte gar nicht ihn gemeint. Das machte alles noch schlimmer. Unentwegt wuchs das Gefühl, da, wo er stand, nicht hinzugehören. Es ging denn auch nicht mehr lange. (...)

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