Miklós Vámos: "Vom Lieben und Hassen"


Die Untiefen einer Mutter-Sohn-Beziehung

Lászlós Mutter ist seit Jahrzehnten manisch-depressiv. In ihren positiven Phasen birst sie fast vor Tatendrang und Ideen. Als Lászlós Schwester Sári ihn eines Tages in die Wohnung der Mutter bestellt, hat diese in einer depressiven Anwandlung versucht, sich das Leben zu nehmen.
Für László, einen erfolgreichen Kabarettisten Mitte vierzig, den die Mutter immer noch Laci oder gar Lacichen nennt, beginnt eine anstrengende Zeit: Es stellt sich heraus, dass seine Mutter einen längst nicht mehr operablen, metastasierenden Krebs hat - was ihre Kinder ihr verschweigen - und regelmäßiger Betreuung bedarf. László, dessen Humor sich schon lange nur noch dank eines professionellen Automatismus auf seine Auftritte beschränkt, steckt ohnehin bis zum Hals in einer Lebenskrise. Die Ehe mit seiner Frau befindet sich in einer Sackgasse, zu den Kindern hat er keine enge Beziehung, und seine Angebetete hält ihn hin. Mit der Aussicht auf ein langsames, Monate dauerndes Sterben der Mutter ist er überfordert, zumal die Beziehung zu ihr trotz der unangenehmen Enge nie gut war. Die resolute, rechthaberische, fordernde und mit ihrem Mangel an Bildung kokettierende Mutter bildet einen Gegenpol zu ihrem zurückhaltenderen, intellektuellen Sohn. Beide gleichen einander darin, dass sie nicht voneinander loskommen und, was insbesondere für den Sohn gilt, Beziehungen daran messen, inwiefern sie von ihnen profitieren können.
Während die Krankheit sich verschlimmert, nimmt Lászlós Widerwillen gegen die Mutter, psychisch wie physisch, zu. Doch die Mutter, frei vom Wissen um ihren aussichtslosen Zustand, geht unverdrossen weiter ihren Weg. Sie unternimmt spontan eine Westeuropareise und lässt sich sogar mit einem Liebhaber ein, auch wenn ihr klar ist, dass dieser sie nur materiell ausnützen wird. Ihre Kinder sind entsetzt und angewidert.
Beide bekämpfen einander bis zum Tod der Mutter. Und erst da begreift László, dass seine Mutter eine bemerkenswerte Frau war, die ihn auf ihre Weise gestützt hat, und die ihm in ihrer Geradlinigkeit, Spontaneität und Kompromisslosigkeit ein Vorbild hätte sein können.

Dieser Roman handelt somit von einem klassischen Konflikt: der Mutter-Sohn-Beziehung. Für László ist diese Beziehung eng und verstörend, er hat sein ganzes Erwachsenenleben mit dem vergeblichen Versuch verbracht, sie abzustreifen. Die Mutter wiederum fordert seine Nähe durch moralische Erpressung ein. László hasst sie - und sich selbst dafür, dass er sie hasst. Er muss sich mit moralischen Begründungen dazu zwingen, ihr zur Verfügung zu stehen, und er sucht verzweifelt nach moralischen Rechtfertigungen, wenn er sich ihren Wünschen widersetzt. Der ausgebrannte Kabarettist kann sich nicht in ihre ungleich buntere, wenn vielleicht auch um einige Facetten reduzierte Welt versetzen, und sie versteht das beengende Schema nicht, in das er sich von seinem Umfeld pressen lässt. Trotzdem hat die Mutter immer wieder ausgefallene und aufwändige Ideen, um ihm eine Freude zu machen; allerdings passen diese Ideen so gar nicht in seine allzu konventionelle Welt.
Dass sie ihn auf ihre Weise sehr geliebt hat, wenn auch oft zur falschen Zeit und auf die falsche Art, wird ihm erst am Ende ihres Lebens bewusst, das sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten und ganz im Gegensatz zu ihm bis zur Neige ausgekostet hat.

Die Erzählperspektive springt zwischen László und seiner Mutter hin und her; dass für den passiven László die dritte Person und ein klassischer Stil gewählt wurden, überrascht nicht. Die Mutter tritt als Ich-Erzählerin auf, stets mit ihren in rascher Folge wechselnden und oft unvollendeten Gedanken herausplatzend, was sich auch in der formalen Gestaltung "ihrer" Textpassagen äußert. Auf diese Weise knüpft der Leser einen engen Kontakt zu beiden Figuren, insbesondere natürlich zur unmittelbar mit ihm kommunizierenden Mutter.
Der Übersetzer Ernö Zeltner hat großartige Arbeit geleistet und die vielen Wortspiele aus dem Ungarischen so übertragen, dass sie ihren Sinn behalten. Auch die beiden individuellen Stile weiß er perfekt zu trennen. So wird dieser Roman mit seinem zeitlos aktuellen, sehr intensiv und eindringlich ausgearbeiteten Thema zu einem eindrucksvollen Leseerlebnis.

(Regina Károlyi; 10/2006)


Miklós Vámos: "Vom Lieben und Hassen"
(Originaltitel "Anya Csak egy van")
Aus dem Ungarischen von Ernö Zeltner.
btb, 2006. 317 Seiten.
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Miklós Vámos, geboren 1950 in Budapest, ist gelernter Jurist. Er war Dramaturg und Verlagsleiter, hat Theaterstücke und Drehbücher verfasst, seine Romane und Erzählungen sind vielfach preisgekrönt und in mehrere Sprachen übersetzt. In Ungarn ist Vámos eine Berühmtheit, nicht zuletzt aufgrund seiner Fernsehserie "Lehetetlen" ("Unmöglich"), die in Ungarn zu den beliebtesten TV-Ereignissen zählt.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Buch der Väter"

Eine monumentale Familiensaga, lebensprall und farbenprächtig, detailgenau und voller Magie: "Buch der Väter" ist eine vielschichtige Reise durch 300 Jahre Raum und Zeit, ungarische Geschichte und schicksalhafte menschliche Begegnungen. Miklós Vámos erzählt darin das Leben von zwölf aufeinander folgenden Generationen - jeweils durch die Augen der erstgeborenen Söhne betrachtet. Sie alle verfügen über die fantastische Fähigkeit, in die ferne Vergangenheit wie auch in die eigene Zukunft zu schauen. Stammvater des Geschlechts ist Cornelius Csillag, der im Jahre 1705 noch als Kind aus Bayern in die ungarische Heimat zurückkehrt. Das verbindende Scharnier zwischen den Generationen ist das fast rituell geführte Familientagebuch, in dem die wichtigsten Ereignisse des Lebens, aber auch persönliche Erfahrungen und Erkenntnisse von philosophischer Tragweite festgehalten und weitergegeben werden. Obwohl die Schreiber der Chronik über die Sehergabe verfügen, sind sie doch immer wieder ungeschützt den Stürmen des Lebens ausgesetzt. Sie können nicht verhindern, dass sie folgenschwere Fehlentscheidungen treffen, und auf die politischen Wirren im kriegsgebeutelten Ungarn haben sie erst recht keinen Einfluss. (btb)
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