Alexander Terechow: "Rattenjagd"


Eine groteske Satire über die russische Gesellschaft

Grigorij Potemkin (1739-1791), russischer Generalfeldmarschall und enger Berater der Zarin, soll aus Anlass eines Besuchs von Katharina der Großen auf der Krim den Befehl gegeben haben, Dorfattrappen zu errichten, um der Zarin Wohlstand und Fortschrittlichkeit der Region vorzuspiegeln. Daher stammt der sprichwörtliche Ausdruck "Potemkinsche Dörfer" im Sinne von "hohle Fassade" bzw. "Vortäuschung falscher Tatsachen".


Wie der Titel verspricht, spielen Ratten in diesem Roman eine zentrale Rolle. Wie verhalten sich Ratten, wo leben sie, wie ernähren sie sich - und wie beseitigt man diese Plagegeister? Vergleiche mit menschlichen Verhaltensweisen drängen sich auf (Zitat: "Also so was, in Anwesenheit des Alpha-Tiers konnte ein Untergebener doch nicht die Reste fressen! Gab es keinen Anführer?") und ziehen sich durch den gesamten Roman. Worum geht es?

In dem russischen Provinznest Swetlojar, einem von Stalin gegründeten Ort, herrscht eine Rattenplage. Der Bürgermeister des Dorfes beauftragt zwei Moskauer Rattenfänger, den Saal des örtlichen Hotels von diesen lästigen Nagern zu befreien. Der Befall ist so extrem, dass die Ratten in dem Festssaal von der Decke plumpsen. Der Besuch des russischen Präsidenten und wichtiger ausländischer Repräsentanten steht bevor und damit die Aussicht auf Devisen und staatliche Fördermittel. Swetlojar soll sich von seiner besten Seite zeigen. Um dieses Ziel zu erreichen, wird in potemkinscher Manier ein riesiges Kartenhaus errichtet.

Der Roman besteht aus 18 Kapiteln, die in chronologischer Reihenfolge die letzten 17 Tage vor dem Besuch des Präsidenten in Swetlojar beschreiben. Die Ausführungen nehmen teilweise groteske Züge an (Zitat: "... ehrbare Bürger mit Fackeln. Der Bürgermeister darf das erste Nagetier anzünden."). Die Kommandanten der Stadt wechseln, und die Rattenjäger sind einmal Helfer, dann wieder Verhaftete. Nonsensverhöre finden statt, und das allgemeine Durcheinander wächst. Der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt, wenn z. B. archäologische Funde herbeigekarrt werden, um dem Ort eine altrussische Vergangenheit anzudichten oder das Volk teilweise durch Militär ersetzt wird, um Aufwiegler loszuwerden. Gegen Ende des Romans werden die Handlungen zunehmend surrealistisch.

Die Geschichte setzt sich aus einer Vielzahl übergangslos aneinandergereihter, einzelner Bruchstücke zusammen. Neben dieser Eigenart in der Struktur, kommt inhaltlich erschwerend hinzu, dass der Autor auf Personenbeschreibungen verzichtet. Obwohl der Roman überwiegend in einfacher Sprache gehalten ist, erfordert das Lesen ein hohes Maß an Konzentration. Einzelne bildhafte Beschreibungen (Zitat: "In den Außenbezirken sah man reihenweise und paarweise glatzköpfige Dächer mit spärlichem Antennenhaar.") lockern die Erzählung auf.

Mit dieser Satire hat Alexander Terechow ein Stück russischer Zeitgeschichte reflektiert. Die Handlung wäre sicherlich für eine Verfilmung prädestiniert, da fehlende verbale Charakterbeschreibungen wunderbar visuell abgefangen werden könnten.

(Klemens Taplan)


Alexander Terechow: "Rattenjagd"
(Originaltitel "Krysoboj")
Aus dem Russischen von Thomas Wiedling.
Gebundene Ausgabe:
C. H. Beck, 2000. 414 Seiten.
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Taschenbuch:
dtv, 2003. 416 Seiten.
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Alexander Terechow wurde 1966 in Nowomoskowsk geboren und studierte Journalismus in Moskau. Während seiner Arbeit für die liberal orientierte Zeitschrift "Ogonjok" trat er in den späten 1980er-Jahren zum ersten Mal als Schriftsteller hervor.