Michail Bulgakow: "Aufzeichnungen eines Toten"

Theaterroman


Zwischen Höhenflügen und Frustration: Aus dem aufreibenden Leben eines Dramatikers

"Zum Abschied erhielten wir von Jelena das Manuskript des 'Theaterromans', den sie uns zuvor ausführlich kommentierte, denn es handelt sich um eine Persiflage auf das Moskauer Künstlertheater, und alle dort unter anderen Namen vorkommenden Personen entsprechen bestimmten Mitgliedern dieses Theaters, angefangen von Stanislawski und Nemirowitsch-Dantschenko. Bulgakow hatte diesen Roman begonnen, als er sich 1936 im Zorn vom Künstlertheater trennte. Leider ist er unvollendet geblieben." (Aus dem Kapitel "Aus dem Leben von Jelena Bulgakowa" von Ottokar Nürnberg, S. 496)

Das vorstehende Zitat sowie die beiden folgenden Textpassagen entstammen dem 1993 bei "Volk & Welt" erschienenen Buch "Jelena Bulgakowa. Margarita und der Meister. Tagebücher Erinnerungen":
"M. A. hat mit einem Roman aus dem Theatermilieu begonnen. Schon 1929, als ich den Sommer in Jessentuki verbrachte, schrieb mir M. A., dass mich ein Geschenk erwarte ... Als ich zurückkam, zeigte er mir ein Heft - das war der Anfang eines Romans in Briefen - und sagte, das sei das Geschenk, er schreibe jetzt einen Theaterroman. Dieses Heft hat er wieder hervorgeholt und schreibt mit großer Leidenschaft am Roman." (Tagebucheintragung Jelena Bulgakowas vom 7. Februar 1937, S. 155, 156)
"Die 'Aufzeichnungen eines Toten' ('Theaterroman') haben, wie alle Werke von Michail Afanassjewitsch, ihre eigene Geschichte. Im September 1929, als ich im Kaukasus Urlaub machte, schrieb mir Michail Afanassjewitsch, dass er zu meiner Rückkehr ein 'Geschenk, das würdig ist ...' vorbereite. (Er hatte die Gewohnheit, einen Satz an der interessantesten Stelle anzubrechen.) Als ich nach Moskau zurückkehrte, erhielt ich von ihm dieses geheimnisvolle Geschenk. Er überreichte mir ein dünnes Heftchen, schlug die erste Seite auf, und ich erkannte die für ihn so charakteristischen Schriftzüge. Folgendes war zu lesen:
Meiner heimlichen Freundin. 1. Postkarte. Meine kostbare Freundin! Sie bestehen also darauf, dass ich Ihnen im Jahr meiner Katastrophe mitteile, auf welche Weise ich Dramatiker geworden bin? ... Darauf folgte der erste Brief, und mit ihm nahm die Erzählung ihren Anfang."
(S. 444)

Im stark autobiografisch gefärbten, unvollendet gebliebenen (nicht nur Schlüssel-) Roman "Aufzeichungen eines Toten" versammelte Michail Bulgakow (1891-1940) Persönlichkeiten und Anekdoten, Klatsch und Tratsch aus der Theaterwelt. Da Bulgakow ein ebenso aufmerksamer Beobachter wie begnadeter Sprachmensch und wohl auch unbeirrbarer Sturkopf war, schneiderte er der damaligen Moskauer Theaterszene einen vergnüglichen - und auch schonungslos entlarvenden - Text auf den Leib.

Der mitunter parzivalartig agierende Protagonist namens Sergej Leontjewitsch Maksudow, nichtsdestotrotz beseelt von Größenwahn einerseits und andererseits geplagt von Minderwertigkeitsgefühlen, gerät nach grandios beschriebenem Scheitern mit seinem vierhundertseitigen Romanerstling in den Sog des turbulenten Moskauer Theaterlebens. Allerdings ist der Weg von der Idee zum Theaterstück, das nicht selten auf der Bühne kaum noch an den Entwurf des Verfassers erinnert, voller Hindernisse und von allerlei Abgründen gesäumt.
Maksudow verhält sich häufig - sehr zum Gaudium des Lesers - taktisch äußerst ungeschickt und lässt kaum ein Fettnäpfchen aus, wie er selbst im Nachhinein zerknirscht feststellen muss.

Ein früherer Selbstmordversuch des Angestellten der Zeitung "Dampfschifffahrt" mit einem entwendeten (und später unter nicht unerheblichen Mühen beim Besitzer versteckten) Revolver, wenig überraschend verhindert durch ein Grammofon, aus dem ausgerechnet (was sonst bei Bulgakow!) Gounods "Faust" erklingt, sowie den Redakteur und Kleinverleger Rudolfi, der Maksudows Roman an den windigen Geschäftsmann Rwazki weitervermittelt. Es folgen erste, wenig anheimelnde Erlebnisse in Literatenzirkeln, Begegnungen mit scheinbaren Freunden und echten Feinden und finanzielle Enttäuschungen.
Während einer kreativen Vision gewinnt Maksudow die Erkenntnis, dass der Roman, zum Theaterstück umgearbeitet, höchst erfolgversprechend sein könnte ...

"Lieber Sergej Leontjewitsch!
Sofort ins Theater! Morgen mittag um zwölf gehe ich mit dem 'Schwarzen Schnee' in die Proben.
Ihr F. Strish."
(S. 158)
Ein denkwürdiges Vorlesen beim gefürchteten Iwan Wassiljewitsch verläuft überhaupt nicht nach Plan, auch sonst scheint sich zeitweilig alles gegen den jungen Schriftsteller verschworen zu haben, was für eine letztlich aufgrund von allerlei Zufällen beendete Zwangspause des gesamten Projekts sorgt. "Kurzum, ein Wunder." (S. 158)

Unterhaltsam, kurzweilig und kenntnisreich beschreibt Bulgakow den Weg seines Protagonisten vom aufstrebenden Talent und dessen Hindernislauf bis zu jener Phase, als endlich, nach beinahe endlosem Hinundher, nach Zeiten der Resignation wie auch der Hoffnung, die Proben für sein Stück "Schwarzer Schnee" anlaufen. Mitten in der Probenarbeit bricht der Roman jedoch abrupt ab.
Man wird somit nie erfahren, ob und wann die Premiere tatsächlich stattgefunden hat, welche Szenen und Textpassagen letztlich der Zensur bzw. dem Regisseur zum Opfer gefallen sind oder bis zur Unkenntlichkeit verändert werden mussten, wie die Publikumsreaktionen ausgefallen sind - und vor allem, warum Sergej Leontjewitsch Maksudow in Kiew Selbstmord begangen hat. Gewiss ist, dass Maksudows tragikomische Aufzeichnungen wunschgemäß in die Hände seines einzigen Freundes gelangt sind, wobei jener Freund in den Aufzeichungen eine ganz besondere Position einnimmt.

Aus der Vielzahl der von Michail Bulgakow, dem liebevollen Spötter mit Niveau und Stil, detailfreudig gezeichneten Figuren seien hier nur einige genannt: der Theaterregisseur Iltschin, der für Maksudow hilfreiche Schauspieler Pjotr Bombardow, die beiden verfeindeten Theaterdirektoren Iwan Wassiljewitsch (berüchtigt aufgrund seiner tyrannischen Schauspielerdressurakte und ganz spezieller Inszenierungswünsche) und Aristarch Platonowitsch mit ihren jeweiligen Anhängern, Gawriil Stepanowitsch, der Finanzchef der Theaters, Foma Strish, der patente Organisator, die nicht minder patente Sekretärin Polyxena Toropezkaja in ihrem sogenannten "Dampfbadentree", Filipp Filippowitsch Tulumbassow, der allwissende Herr der Theaterkarten, sowie eine Handvoll "nach Rollen dürstende Nestoren".
Wirklichkeitsgetreu werden Geldnöte, kreative Krisen, unergründliche Vorgänge im Theater und in dessen Umfeld, Knecht- und Knebelverträge, selbstherrliche Theaterbonzen, schwierige Darsteller, geschickte Kulissenschieber (nicht nur im übertragenen Sinn), sensible Diven, dampfende Gerüchteküchen und wunderliche Theaterbeherrscher beschrieben. Besonders gelungen sind die Dialogpassagen, für einen Theaterliebhaber wie Bulgakow freilich perfekt erfüllte Pflicht.
Se non è vero, è molto ben trovato!

(kre; 09/2019)


Michail Bulgakow: "Aufzeichnungen eines Toten. Theaterroman"
(Originaltitel "Записки покойника. Театральный роман")
Aus dem Russischen von Thomas Reschke.
Mit literaturgeschichtlichen Anmerkungen von Ralf Schröder.
Sammlung Luchterhand. 207 Seiten.
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