Jón Kalman Stefánsson: "Verschiedenes über Riesenkiefern und die Zeit"


Jón Kalman Stefánsson wurde 1963 in Reykjavík geboren und begann nach einer Zeit, in der er die unterschiedlichsten Arbeiten annahm, 1986 mit dem Studium der Literatur, ohne dieses abzuschließen. Nichtsdestotrotz unterrichtete er acht Jahre lang Literatur an einer Schule in Akranes. Nach einem dreijährigen Aufenthalt in Kopenhagen lebt er seit 1995 wieder in Island, wo er mittlerweile als freier Schriftsteller arbeitet.

Seim erster Roman, mit dem er anno 1997 im deutschen Sprachraum bekannt wurde, war "Der Sommer hinter dem Hügel" und umfasste die ersten beiden Teile einer Trilogie, die 1999 mit "Das Licht auf den Bergen" abgeschlossen wurde. Sehr humorvoll und warmherzig wird darin die Geschichte eines heranwachsenden Jungen erzählt, der wie viele isländische Jugendliche im Sommer auf dem Land arbeitet. Dort beobachtet er die bäuerliche Gesellschaft und ihre teilweise skurrilen Erscheinungen. Trotz eines roten Fadens besteht die Trilogie aus einer Vielzahl einzelner Geschichten.
Ähnlich ist es in seinem Buch "Verschiedenes über Riesenkiefern und die Zeit".

Zehn Jahre ist er alt, der Ich-Erzähler des Buches, als er zu einer großen Flugreise zu den Großeltern nach Norwegen aufbricht. Er darf den langen Sommer dort verbringen. Als er nach einer für ihn abenteuerlichen Reise endlich im Haus seiner Großeltern angekommen ist, erwartet ihn dort seine pubertierende Halbschwester, die mit ihm nicht so viel anfangen kann. Später allerdings wird sie großes Verständnis für ihn aufbringen und ihm näher kommen. Und es erwartet ihn ein liebevoller, aber skurriler Großvater, der mittlerweile in Gunnar Gunnarsons Werken bei Band VII angelangt ist, und sich intensiv mit dem Leben des Bischofs Jón Arason beschäftigt, von dem er seinem Enkel auch stundenlang erzählt. Zu diesem Großvater, der von Beruf Anstreicher ist, und dem er manches Mal bei seinen Arbeiten helfen darf, entwickelt der Junge ein sehr intensives Verhältnis. Schon früh im Buch deutet er an, dass diese glückliche Zeit nur kurz gewesen ist, denn noch in diesem wunderschönen Feriensommer in Norwegen fällt der Großvater von der Leiter und bleibt tödlich verletzt liegen.

Neben den Buben, die der Protagonist im Dorf der Großeltern kennenlernt und mit denen er manches lustige und gefährliche Abenteuer erlebt, sind seine beide besten Freunde Fantasiegestalten: mit Tarzan und dem Indianerhäuptling Flinker Hirsch ist der Junge im dauernden inneren Dialog.

Und er macht sich über alles Mögliche seine klugen Gedanken:
"Da sind Menschen so prall voll Leben wie eine reife Apfelsine, man braucht nur mit einem Finger draufzudrücken und schon quillt der Saft durch die Schale. Da sitzen wir alle im Garten und sind am Leben. Warum geht alles immer weiter und verweilt nicht in diesem goldenen Augenblick? Wer hatte die Idee dazu, wer verwandelte den Einzeller in einen Menschen, der viel zu viel Leben in sich hat, so viele einzelne Erinnerungen? An Licht und Schatten, an glühende Momente. Dann verschwindet alles in der Erde und das Nachleuchten, das anfangs noch bleibt, wird schwächer und verlischt nach wenigen Jahrzehnten. Wer hat sich das ausgedacht und hat vielleicht jemand die Macht, dieses grausame Spiel zu beenden? Ist es nur die Zeit oder steht noch etwas anderes darüber und dahinter, etwas, das sämtliche Bezeichnungen abschüttelt, das die Menschen aber Gott nennen? Gott, das Synonym für unsere tiefsten Ängste und leuchtendsten Hoffnungen."

Als seine Stiefschwester von einem Englandurlaub zurückkehrt, bringt sie ihm eine Schallplatte mit, die sein Leben und seine Sicht auf die Welt verändert. "A Collection of Beatles Oldies" hebt sofort den Status des Ich-Erzählers bei seinen einheimischen Freunden, und es scheint, als sei er über Nacht erwachsen geworden.

Jón Kalman Stefánsson hat einen wunderbaren kleinen Roman voller Reflexionen über die Erinnerung und die Vergänglichkeit der Zeit geschrieben. Er reiht Geschichte um Geschichte aneinander, heitere Episoden, scheinbar von leichter Hand erzählt, doch von tiefem Ernst und Respekt vor dem Leben geprägt.

Ein altes buddhistisches Mantra, das er gegen Ende des Buches auf einer ganzen Seite unzählige Male wiederholt, scheint so etwas wie ein Motto seines Lebens und Schreibens zu sein:
"Jedem Menschen ist der Schlüssel zum Tor des Himmelreichs gegeben. Der selbe Schlüssel öffnet die Tore der Hölle."

(Winfried Stanzick)


Jón Kalman Stefánsson: "Verschiedenes über Riesenkiefern und die Zeit"
Übersetzt aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig.
Reclam Leipzig. 206 Seiten.
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