Lucette ter Borg: "Das Geschenk aus Berlin"

Sprecher: Gert Heidenreich
(Hörbuchrezension)


Ein ganzes Jahrhundert Musik oder Erinnerungen an die Heimat

Beethovens Neunte und ein Bechstein-Flügel mit den Initialen A. H. sind die Schlüsselelemente und Ankerpunkte im Romandebüt der niederländischen Autorin Lucette ter Borg, deren Buch 2006 auf Deutsch erschienen ist und jetzt mit einem großartigen Gert Heidenreich eine akustische Aufwertung erfährt.

Überhaupt durchzieht Musik das gesamte Romankonstrukt wie ein roter Faden. Auf der einen Seite haben die Protagonisten fast allesamt mehr oder weniger damit zu tun, auf der anderen gelingt es der Autorin, eine Stimmung zu erzeugen, die wie eine gelungene, harmonische Komposition, wie ein sanfter sinfonischer Satz erscheint und das geistige bzw. auditive "Auge" umspült.

"Das Geschenk aus Berlin" ist ein wunderschöner, raffiniert konstruierter Familienroman über ein ganzes Jahrhundert: das Zwanzigste. Es ist die Geschichte von Andreas Landewee, Jahrgang 1900, der im Alter von 76 Jahren von Rothenburg in Deutschland nach Kanada, in das verlassene Goldgräberdorf Black Creek in British Columbia, auswandert, zu seinem Sohn Wolfgang, der diesen Schritt schon früher gegangen ist.
Bis zu seinem 90. Geburtstag begleitet der Leser fortan, geführt durch die unsichtbare Hand eines Erzählers, Landewee kreuz und quer, aber sicher durch das Puzzle seiner Erinnerungen, welches sich nach und nach zu einem Ganzen fügt.

Reisen und Zurückbleiben
Ungewöhnlich scheint die radikale Abkehr Andreas Landewees von seiner Heimat und dann noch in diesem Alter. Heimat? Weit gefehlt. Deutschland ist nicht sein Vaterland. In eine nordböhmische Musikerfamilie hineingeboren, später auf einem feudalen Gut lebend und arbeitend, wurde er nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als so genannter Sudetendeutscher vertrieben.
Nun hat der alte Mann auch seinen letzten Halt verloren, seine zweite Frau und große Liebe. Sie starb, wie einst seine Mutter, an Krebs. Wie sie war Elisabeth Bruch Sängerin, Sopranistin, eine berühmte sogar, die unter Furtwängler brillierte. Mit seinen beiden anderen Kindern verbindet Andreas Landewee kaum etwas.

Nach und nach, zwischen Wanderungen durch die wilde Schönheit Kanadas, ("Die Natur ist tief, unerbittlich schön und gefährlich. Sie ist Boden und bodenlos zugleich."), und am abendlichen Kamin kommen die Erinnerungen. An seine Kindheit mit einem egomanischen Vater und die fehlende Mutterliebe, weil diese lieber mit ihrem Gatten durch die Gegend tingelte, die sich jedoch schlagartig nach einem schweren Schlittenunfall in wahre "Affenliebe" wandelt.

Diese Rückblenden baut Lucette ter Borg geschickt in die Gegenwartsebene der Handlung ein und lässt so eine Geschichte aus tausend Einzelheiten erblühen. Der Hörer nimmt beinahe physisch von den Gedanken des alten Mannes Besitz, kehrt mit ihm in dessen Vergangenheit zurück. Schicht für Schicht wird Andreas' Leben entblättert. Die ständig wechselnden kurzen Passagen aus seiner Kindheit zwischen Reisen und Zurückbleiben, Abenteuer und Krankheit, Ersatzmutter und Mutter, sind ein stetes Spiel zwischen Imagination und Einfühlung und entfalten eine zauberhafte Poesie von unterschwelliger Wehmut, die jedoch keinesfalls kitschig und allzu empathisch vorgetragen wird. Gleichzeitig beobachtet die Autorin Andreas' Altern sehr feinfühlig und wartet mit stimmungsvollen Landschaftsbeschreibungen auf.

Heidenreichs Gespür für literarische Tiefe
Lucette ter Borg schildert den knorrigen Vater und seinen nicht weniger knorrigen Sohn in einer kargen Sprache, die den beiden Männern wie auf den Leib geschneidert erscheint.
Die niederländische Autorin hat mit diesem Buch der Familie ihrer Großmutter nachgespürt.

Die gediegene, ruhige, abgeklärte, von großer Liebe zur Natur, beinahe altdeutsch manierlich erzählende Geschichte weiß Gert Heidenreich großartig zu intonieren. Seine Stimme ist in Deutschland sicher den Meisten bekannt, denn seit 1972 ist der "Grimme"-Preisträger als Sprecher für Radio und Fernsehen tätig. Mit viel Gespür für literarische Tiefe liest er Lucette ter Borgs Roman. Nahezu prädestiniert ist seine warme, nuancierende Stimme mit dem dunklen Timbre für den alten Landewee. Gert Heidenreich weiß die Stimmung des Romans mit seinem unfehlbaren Gespür für Takt und Tempo zu nehmen und verleiht so der Geschichte ein besonderes Flair. Da wird Literatur noch einmal ganz anders greifbar: packend geschrieben sowieso, jetzt aber von einer Stimme zum Leben erweckt, der man "immer noch eine und noch eine Stunde zuhören könnte".

Fazit:
Lucette ter Borg charakterisiert in klarer Sprache einen alternden Mann mit all seinen Fehlern und Lebenslügen, ohne dabei je seine Würde zu verletzen. Gert Heidenreich setzt dem ganzen noch ein I-Tüpfelchen auf; ein wunderbares Hörbuch.

(Heike Geilen; 06/2008)


Lucette ter Borg: "Das Geschenk aus Berlin"
Sprecher: Gert Heidenreich.

(Originaltitel "Cadeau uit Berlijn")
Aus dem Niederländischen übersetzt von Judith Dörries.
Hoffmann und Campe, 2008. 4 CDs; Spieldauer ca. 285 Minuten.
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Buchausgabe:
Wallstein Verlag, 2006. 280 Seiten.
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Lucette ter Borg, 1962 geboren, studierte Slawistik und historische Pädagogik an der Universität Amsterdam. 2005 wurde sie mit dem "Geertjan-Lubberhuizen-Preis" für das beste niederländische Debüt ausgezeichnet.