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Die Wüste dagegen, selbst hier am Saum, enttäuscht beim ersten Anblick nicht. Ihre Unendlichkeit prägt alles, vergrößert alles und macht die Kleinlichkeit der Menschen vergessen. Und wie schnell nahm sie vollständig Besitz von uns, wie plötzlich hüllte sie uns in Stille und Einsamkeit!
Gestern morgen noch das von Touristen überfüllte Kairo, ein Leben wie in allen eleganten Winterorten. Gestern abend noch in Suez, schon etwas einsamer, in einem einfachen kleinen Hotel, das nach Hafensiedlung und Sand roch. Heute, nachdem wir uns von den letzten europäischen Gesichtern verabschiedet haben, brachte uns ein Schiff bei heftigem Wind auf diese Seite des Roten Meeres und setzte uns allein auf dem öden Strand ab. Kein Mensch, überhaupt nichts beim Einbruch des trostlosen Abends.
Gleichwohl belauerte man uns dort unten, hinter den dürftigen Palmen der Oase des Moses, die in der Ferne einen dunklen Fleck in der Unendlichkeit des Sandes bildete. Und wir sahen Kamele rasch auf uns zukommen, von fragwürdig aussehenden Beduinen geführt. Als sie in unserer Nähe waren, lächelten die Kameltreiber, und wir begriffen, daß sie zu unseren Leuten gehörten und ihre Tiere für uns zum Reiten sein sollten. Sie waren mit Dolchen und langen Hirschfängern bewaffnet; ihre wie Mumien ausgedörrten Körper blickten durch die Löcher der unbeschreiblichen Lumpen hervor, mit denen sie bekleidet waren, Fetzen einer Ziegenhaut oder Überreste eines Burnus; sie zitterten vor Kälte in dem unfreundlichen Abendwind, und beim Lächeln zeigten sie ihre langen Zähne. In einer halben Stunde führten sie uns zur Oase des Moses-Brunnens, dem Ausgangspunkt der Wüstenstraßen, wo unsere vor zwei Tagen aus Kairo abgeschickten Zelte unter kümmerlichen Palmen aufgeschlagen waren. Unser Dolmetscher und unsere Diener, lauter Syrer, erwarteten uns hier, und rund um das Lager bildeten unsere zwanzig Kameltreiber, unsere zwanzig Kamele eine Anhäufung von Elend und wilder Häßlichkeit, Tier und Mensch ruhten gemeinsam im Sand, zwischen Kot und Ausscheidungen.

In unserer Nähe lagerte eine andere, in der Anzahl größere, aber einfachere Karawane in ähnlichem Durcheinander am Boden: russische Pilger, Popen, Bauern, vor Müdigkeit völlig erschöpfte alte Frauen, glühende Gläubige, die nach zahlreichen sonnigen Tagen und eisigen Nächten hohlwangig und schwer hustend vom Sinai zurückkehrten. Und auf einmal war rundum kahle Unendlichkeit, die Wüste in der Dämmerung, von heftigem kalten Wind durchfegt; die Wüste von neutraler und lebloser Farbe, die sich unter einem noch dunkleren Himmel ausdehnt, der an den Grenzen des kreisförmigen Horizonts sich mit ihr zu vereinen und sie zu erdrücken schien. Uns ergriff ein berauschendes und furchterregendes Gefühl der Einsamkeit; ein Bedürfnis, noch tiefer hinein zu dringen, ein unbedachtes Bedürfnis, ein physisches Verlangen, im Wind bis zur nächsten Anhöhe zu laufen, um noch weiter sehen zu können, noch weiter in die verlockende Unermeßlichkeit…
Von der Höhe der kahlen Düne, zu der wir geeilt waren, sahen wir in der Tat noch weiter, und über der noch größeren Wüste lag ein letzter Schimmer des Tages, der vom gelben Himmel durch einen langsam sich bildenden Wolkenriß herabfiel….

Und bei diesem Winterwind wurde es so unheilvoll, daß sich plötzlich zur Anziehungskraft der Leere eine Schwermut aus fernen Zeiten gesellte, ein Bedauern, gekommen zu sein, eine Fluchtanwandlung, etwa wie die instinktive Furcht, die Tiere aus grünem Weideland kehrtmachen läßt beim Anblick dieser Gegend, über der der Tod schwebt. Später unter dem Zeltdach, geschützt vor dem Wind, im Licht der Lampen, beim ersten Nomadenmahl, erfaßte uns wieder sorglose Fröhlichkeit, und schon hatten wir uns gewöhnt an die große Stille der Wüste, in der die Dämmerung allmählich erlosch. Und danach gaben wir uns dem kindlichen Vergnügen hin, unsere arabischen Gewänder anzulegen - etwas Neues für meine beiden Reisebegleiter, wenn auch nicht für mich. Wirklich notwendig sind diese Verkleidungen nicht, besonders in diesem ersten Teil der Wüste Sinai, wohin schon so viele Europäer gelangten; aber sehr viel bequemer unter der brennenden Sonne des Tages wie an den kalten Abenden, und vor allem viel malerischer, wenn man auf Dromedaren reist; und wer nicht allein ist, schuldet es seinen Gefährten, ihnen das Bild der Wüste nicht durch die lächerliche Figur eines englischen Anzuges zu verderben, und es ist fast eine Frage der Höflichkeit gegenüber dem anderen, sich nach eigenem künstlerischen Belieben zu kleiden. Wir sind also für etliche Tage unserer westlichen Jacken entledigt, frei und vielleicht verschönert, durch den langen Burnus und das lange Kopftuch gleichen wir den arabischen Scheichs - mit Ungeduld erwarten wir den Aufbruch am nächsten Morgen.
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(Aus "Die Wüste" von Pierre Loti.
Aus dem Französischen von Dirk Hemjeoltmanns.)

"Die Wüste" ist der erste Teil einer Trilogie, in der Loti authentisch und poetisch zugleich seine Nahostreise 1894 beschreibt. Die unnachahmliche Darstellung dieser Reise ins "Gelobte Land" lädt den Leser und Reisenden zum Nachvollzug und zum Vergleich ein.
Pierre Loti (1850-1923) gilt als Hauptvertreter des Exotismus in Frankreich und wurde 1891 als jüngstes Mitglied in die Académie française aufgenommen. (Manholt; dtv)
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