Lea Singer: "Der Opernheld"


Unter dem Namen Lea Singer schreibt die passoinierte und gelernte Köchin, studierte und durch viele Biografien und Monografien ausgewiesene Literatur- und Musikwissenschaftlerin Eva Gesine Baur wunderbare Romane.

Mit "Mandelkern", einer weiblichen Doktor-Faustus-Geschichte, lernte sie der Rezensent anno 2007 zum ersten Mal kennen und schätzen. Auch ihr nächster biografischer Roman aus dem Jahr 2008, ebenfalls bei Hoffmann und Campe erschienen, "Konzert für die linke Hand" ließ den Rezensenten begeistert zurück. Die Autorin beschreibt darin die bewegende und ob ihrer Lieblosigkeit erschütternde Familiengeschichte der Wittgensteins und ihres Sohnes Paul; eines Mannes, der in der Musikwelt zu einiger Berühmtheit gelangte. Paul Wittgenstein, Sohn der großen Familiendynastie der Wittgensteins und Bruder des später berühmt gewordenen Sprachphilosophen Ludwig Wittgenstein, hat im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren und gibt dennoch seinen Traum, Pianist zu werden, nicht auf. In der Folge werden viele berühmte Komponisten auf seine Bitten hin "Konzerte für die linke Hand" für ihn komponieren.

Der Roman ist nicht nur die bewegende und faszinierende Geschichte einer Familie, die Anfang des 20. Jahrhunderts in Österreich zu den wichtigen Häusern zählte. Es ist auch eine Geschichte Österreichs dieser Zeit und eine Geschichte der Juden in Österreich.

Auch in ihrem Roman "Der Opernheld" verknüpft Lea Singer geschickt zwei Themen miteinander. Zum Einen ist das Buch eine Hommage an die Oper, speziell die italienische Oper, zum Anderen ist es eine eindrückliche Beschreibung der Geschichte eines Mannes im besten Alter, der die Realität mit der Opernwelt verwechselt und dabei in Teufels Küche kommt.

Des Teufels Küche ist die geschlossene Station einer italienischen Psychiatrie in Rom, in die der Mann eingeliefert worden ist, nachdem er während einer seiner zahlreichen Verwechslungen, die dann in dem Buch weiter geschildert werden, im psychotischen Bewusstsein, eine Operfigur zu retten, einen Menschen mit einem Korkenzieher in den Kehlkopf stach und ihn dabei tödlich verletzte.

So beginnt das Buch. Der „Opernheld“ heißt Moritz Redder. Weil das aber gar nicht nach Oper klingt, hat er seinen Namen italienisiert. Er nennt sich Maurizio Salvatore und lässt über Nacht, achtunddreißigjährig und ledig, seinen Rechtanwaltsberuf hinter sich. Die Partner in der Kanzlei haben ihn hinausgeworfen, nachdem sich Moritz Redder nach einem Urlaub wahrlich seltsam verhält und die Welt der Oper mit seiner Realität verwechselt. Lea Singer beschreibt sehr eindrücklich und sensibel, wie solche psychischen Störungen entstehen können. Redder, der die Oper immer gehasst hat und in einer freien Zeit alles Andere als musische Interessen hat, (er geilt sich an Gewaltvideos und Pornos der übelsten Sorte auf), findet eines Tages die Aufzeichnungen seiner Mutter, Briefe, die sie an einen "carissimo Carlo" geschrieben hat, die zusammen mit einer großen Zahl alter Opernlangspielplatten und einem alten, noch funktionsfähigen Plattenspieler in einer großen Kiste versteckt waren. Moritz erfährt, dass es die Enttäuschung über diese verlorene Liebe war, der er entsprungen ist, die sie die Oper und alles Schöne hat ablehnen lassen.

Redder nimmt sich drei Wochen Urlaub, hört sich durch die Langspielplatten und verwandelt sich binnen Tagen in Maurizio Salvatore. Eine psychische Störung bricht wieder auf, die er schon in der Kindheit hatte, als man ihm erfolgreich eine blühende Fantasie austrieb. Doch was verdrängt ist, kehrt wieder. Der Opernheld, wie er sich später selbst nennen wird, nachdem er seine Muse in Rom, wie er glaubt, erfolgreich verteidigt hat, verliert seine Arbeit und macht sich, offenbar bedeutende Ersparnisse in der Hinterhand, auf nach Italien, wo ihn Lea Singer auf den Spuren unzähliger Komponisten, Librettisten und Sängerinnen wandeln lässt.

Auf jeder seiner Reisestationen die ihn über Mailand und Venedig, Sabbioneta und Mantua, Florenz, Fiesole, Lucca, Torre di Lago, Parma und Buseto, Verona, Pesaro und Neapel bis nach Sizilien und endlich zurück nach Rom führen, lässt Lea Singer ihn der Geschichte der Oper begegnen. Er verwandelt sich in einen Verfechter der in den Opern, die sehr eindrücklich beschrieben werden, gelebten und verfochtenen Ideale. Er verliebt sich in Sängerinnen, sieht Operngestalten auf der Straße, und selbst die aktuelle politische Situation hat für ihn den Charakter einer Oper.

Bis zu der tödlichen Klimax in Rom erlebt er auf jeder Station sich immer mehr überschlagende Abenteuer, labt sich an und wälzt sich geradezu in der Größe seiner immer stärker werdenden Gefühle und lässt sich nicht beirren von denen, die ihn, seine Störung sofort erkennend, verlachen und verhöhnen.

Doch ganz am Ende, das an dieser Stelle nicht verraten wird, zeigt sich für den Opernhelden nicht nur ein Ausweg aus der Klinik, sondern auch eine Form von Glück, die man zu Beginn nicht für möglich gehalten hätte.

Freunde der italienischen Oper werden dieses Buch lieben.

(Winfried Stanzick; 09/2011)


Lea Singer: "Der Opernheld"
Hoffmann und Campe, 2011. 384 Seiten.
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