Als ich der Müller war

Etwa ein Jahr nach dieser Wallfahrt gab's ein merkwürdig Geschichtchen daheim.
Nicht gar weit vom Hause, zwischen und unterhalb von Waldrainen und Wiesenlehnen, ist eine Schlucht. Sie ist voll dichtem und hohem Erlen- und Haselnußgebüsch, zwischen welchem Germen (Liliengewächse), Schierling und Sauerampfer wuchern. Unter diesen Gewächsen rieselt ein Wasser, das seinerzeit zuweilen nur von einem durstigen Krötlein aufgesucht wurde, sonst aber, so klar und frisch es war, ganz unbeachtet blieb, bis unser Nachbar, der Thoma, dem die Schlucht gehörte, eine Mühle in dieselbe baute. Die Mühle stand so versteckt im Gebüsch, daß ich, wenn ich bei meiner Rinderherde auf dem Wiesenrain stand, vergebens nach derselben gespäht hätte, wenn an ihr und hoch über den Gesträuchen nicht zwei Tannen emporgeragt haben würden. Auf diesen Tannen saß gern ein Habicht und pfiff zu mir und meinen Rindern herüber, daß ich vor Grauen im Gedanken oft ein heilig Vaterunser betete. Auch vor der Mühle fürchtete ich mich; sie kam mir mit ihren ewigen Schatten und traurigem Wasserrauschen schier so schauerlich vor wie jene im Märchen meiner Mutter, in der die schöne, einschichtige Müllerstochter zwölf Räuber mit der breiten Mühlhacke geköpft hat.
Da kam aber eine Zeit, in der ich näher mit der Mühle im Schierlinggraben Bekanntschaft machen sollte.
Unsere schöne Mühle im lichten Wiesental, in der ich meinem Vater so oft das Korn mahlen half, war in einer Nacht niedergebrannt, bis auf die zahllosen Eisennägel und die zwei Mühlsteine, die ganz dunkelrot angelaufen und dann in mehrere Stücke auseinandergefallen waren. Das Wasserrad am halbverkohlten Gründel (Achse) allein war stehengeblieben, und auf dasselbe schoß der Mühlbach nieder, und das Rad lief und tanzte in hastiger Eile wie närrisch. Verrückt war es geworden ob des Unglückes. Und erst als mein Vater den Mühlbach ab in den Fluß leitete, blieb das Rad stehen und stand viele Jahre lang hoch und kohlschwarz und unbeweglich über dem Schutt.
Mein Vater und ich hatten alle Eisennägel zusammengesucht auf der Brandstätte, aber der Schmied gab uns dafür nur fünfundzwanzig Groschen; und die Mühle konnten wir nicht mehr aufbauen.
Da ging mein Vater zum Nachbarn Thoma und fragte an, was er Gegendienste leisten müsse, wenn er die Mühle im Schierlinggraben an Tagen, da sie leer stehe, benutzen dürfe.
Der Thoma legte meinem Vater einen Brotlaib vor: er möge sich abschneiden, nur ein recht groß Stück, er, der Nachbar, habe gut Korn gebaut. Ja, und vonwegen der Mühle, die könne er, mein Vater, schon haben; so einen, zwei Tage die Woche steht sie ja leer; und eines Gegendienstes wegen könne keine Rede sein; mein Vater sei mit dem Feuer unglücklich gewesen, ja, und das könne jedem geschehen, solle sich nur noch Brot abschneiden, ein rechtschaffen Stück. Gesegne Gott! Gesegne Gott!
In unserem Haus ist der Vater selbst der Mühlesel gewesen. Und so stieg er eines Tages, den Kornsack auf der Achsel, nieder in den Schierlinggraben. Ich, ein blöder Junge, war entweder hinter meinen Rindern oder hinter meinem Vater her; mein Vater war mir stets der unfehlbarste und erste Mensch auf Erden, und alle anderen Leute liefen nur so neben mit; nur der Pfarrer und der Amtmann ausgenommen, die standen höher: der eine hielt's ganz mit Gott, der andere mit dem Kaiser - und mit uns hielt's keiner von beiden.
So wand ich mich denn hinter meinem Vater durch das Erlen- und Haselnußgebüsch der Mühle zu. Und als wir vor derselben standen, zog mein Vater einen hölzernen Schlüssel aus dem Sack, sperrte die graue, niedrige Tür auf, und wir standen jetzt in der finsteren Mühle, in welcher uns nur der staubige Mehlkasten und über demselben das Steingehäus und die Aufschüttmulde matt entgegenblickten. Wir stiegen über sechs oder acht Stufen empor zum Schüttboden; an die braune, spinnwebige Wand desselben waren mehrere Heiligenbilder geklebt, eine Art Hausaltar, an dem auch ein grünes Weihbrunngefäßchen gängelte. Mein Vater besprengte mich damit; dann leerte er seinen Kornsack in die Schüttmühle und guckte noch ein wenig durch ein Fensterchen auf das stetig rauschende Wasserfloß hinaus zwischen den Fugen in die Radstube hinab, aus welcher erst eine rechte Finsternis hervorglotzte. Und als er sah, daß alles in Ordnung war, tauchte er mit beiden Händen eine aus der Wand stehende Stange nieder. Da wurde es lebendig. Zuerst hörte ich einen einzelnen Klapper, bald einen zweiten, dritten; der Boden hub sachte an zu dröhnen, zu schütteln; das Klappern wurde schneller und schneller und kam endlich in ein gleichmäßiges Rollen und Klirren und Schrillen. Es ging die Mühle.
Von dem zitternden Schnabel der Schüttmulde rieselte das braungelbe Brünnlein des Kornes in den Steinhals, an welchem seines raschen Laufes wegen weder ein Kern noch ein Maserchen zu erkennen war.
Mein Vater unterwies mich in den Dingen, auf daß auch ich das Müllern lerne, und machte endlich die Decke des Mehlkastens auf, in dem bereits der feine, weiße Staub des Mehles flog.
Erst spätabends - als es schon so finster war, daß ein zur Tür hereinsprühendes Johanniswürmchen mich ins Herz hinein erschreckte, weil ich im Augenblick wähnte, es sei ein Feuerfunke und es hebe auch diese Mühle zu brennen an - drückte mein Vater wieder an der Wandstange; da wurde das Klirren und Klappern langsamer, noch dröhnte und ächzte das Räderwerk träg und träger, dann stockte es und war verstummt. Mir klang es in den Ohren, und draußen rauschte wieder das Wasser.
Mein Vater besprengte Steingehäuse und Mehlkasten mit dem Weihwasser, auf daß über Nacht kein Unglück komme; dann verschloß er die Tür mit dem hölzernen Schlüssel, und wir stiegen durch das wilde Gesträuch und über die Wiesen- und Feldlehnen hinan zu unserem Haus. (...)


(aus "Als ich noch der Waldbauernbub war" von Peter Rossegger; 1843-1918)
... Buch bestellen ...