Charlotte Lyne: "Alles über Shakespeare"


Eine sehr gelungene Propädeutik zum unerschöpflichen Thema Shakespeare

Alles über Shakespeare? Da erheben sich - nicht nur beim kundigen Leser - sogleich die Zweifel. Skepsis ist angebracht. Und tatsächlich beeilt sich die Verfasserin auch, dieses im Buchtitel gegebene Versprechen umgehend zu relativieren. Gleich im ersten Kapitel nimmt sie die vollmundige Ankündigung wieder zurück und möchte den Titel des Buches "auch ein wenig als Provokation" verstanden wissen. Denn zu wenig gesicherte Fakten sind zu William Shakespeares Lebensweg bekannt, zu spärlich fließen die Quellen, aus denen die Forscher ihren Wissensdurst stillen könnten. Sigmund Freud, Otto von Bismarck, Henry James sowie zahlreiche andere Personen prominenten Charakters haben sogar öffentlich und lautstark bezweifelt, dass ein Mann, der aus solch bescheidenen Verhältnissen wie Shakespeare stammte, überhaupt in der Lage gewesen wäre, derartig geniale Werke zu schaffen. Hat man also beizeiten einem anderen Dichter die Federn ausgerupft, um - aus welchem Grund auch immer - den Namen Shakespeare damit aufzuplustern? Nein, sagt die Autorin, wiewohl auch hier letzte Zweifel nicht ausgeräumt werden können. Die Frage nach der Urheberschaft ist für Charlotte Lyne denn auch nicht die wichtigste Frage, denn "hätte es Shakespeare nicht gegeben, so hätte man ihn unbedingt erfinden müssen!"

Kein anderer Schriftsteller wird so oft zitiert wie William Shakespeare, meist ohne dass man sich dabei der Herkunft des Zitates bewusst ist, kein anderer Bühnenautor wird so häufig gespielt wie Shakespeare. Geboren wurde er vermutlich am 23. April 1564 in Stratford, und die Voraussetzungen für eine Karriere als Literat schienen alles Andere als günstig. Doch das Interesse für das Theater zog den jungen Shakespeare schon bald nach London, wo unter der Regentschaft von Königin Elizabeth I. sein schneller und steiler Aufstieg begann.

Charlotte Lynes Buch "Alles über Shakespeare" stellt einen respektablen und in jeder Beziehung gelungenen Versuch dar, diesen großen Dichter auch einem breiteren Lesepublikum nahe zu bringen. Sie bedient sich dabei eines angenehmen und legeren Plaudertones. Spielerisch leicht, vielleicht manchmal ein wenig zu verspielt, führt sie uns in die faszinierende Welt des William Shakespeare ein. Das Eingangskapitel "Vorhang auf für ein Phänomen" und das Schlusskapitel "Der Vorhang schließt sich" übertragen den klassischen Bühnenrahmen auf das Buch, das nicht nur von sachkundiger Hand geschrieben, sondern auch noch verständlich, interessant und sogar spannend ist. Und das Lesenswerte an diesem Buch geht auch weit über das unmittelbare Interesse an Shakespeare hinaus, es erstreckt sich auf das Theaterleben der damaligen Zeit, auf das gesellschaftliche Leben am englischen Königshof sowie beim Volk, und es schildert sehr anschaulich die Lebensumstände, Sorgen, Nöte und Hoffnungen der Menschen des 16. Jahrhunderts. Einige Exkurse behandeln spezielle Themen wie die Englische Reformation und ihre Folgen, das Elisabethanische Theater oder König James I., den "weisesten Narren der Christenheit". Auch zahlreiche Zitate aus Shakespeares Werken sind immer wieder in den Text eingestreut. Da trifft man dann häufig auf Vertrautes, manchmal auch auf weniger Vertrautes. Wer weiß  beispielsweise schon, dass der Ausdruck "Gut Gebrüllt, Löwe!" nicht aus einem Kinderbuch oder der "Augsburger Puppenkiste" stammt, sondern aus einem Werk William Shakespeares?

Shakespeares Stücke lassen fast immer verschiedene Lesarten und Deutungen zu, simple Schwarzweißmalerei lag dem Dichter fern, und er schuf auch keine klaren Identifikationsfiguren. Seine Figuren sind Menschen mit komplexen Motiven und Verhaltensweisen, die den Leser zum Rätseln und zur Mitdeutung aufrufen. Textanalysen und Werkbetrachtungen gönnt die Autorin in ihrem Buch allerdings relativ wenig Raum, aber das ist keinesfalls als ein Manko zu sehen, denn sonst hätte diese Einführung in Werk und Persönlichkeit William Shakespeares zu einem dicken Wälzer aufgebläht werden müssen und somit seinen Zweck verfehlt. Einigen herausragenden Werken schenkt die Verfasserin etwas mehr Aufmerksamkeit, wie beispielsweise dem allgemein als Shakespeares größtes Werk angesehenen "Erdbeben Hamlet, das bis in unsere Zeit den Bühnenboden zittern lässt." Eingefleischten Shakespeare-Muffeln legt Frau Lyne jedoch ans Herz, sich zunächst eine Aufführung von "Macbeth" anzusehen.

Unzweifelhaft war Shakespeare einer der Hauptgestalter des modernen Englisch, ein wichtiger Wegbereiter für den Siegeszug der heutigen Weltsprache. Shakespeare benutzte in seinen Werken circa 29.000 verschiedene Wörter, prägte selbst auch zahlreiche neue Begriffe. War er auch ein seiner Zeit vorauseilender Anti-Rassist, wie man es aus den Stücken "Othello" und "Der Kaufmann von Venedig" herauslesen könnte? Charlotte Lyne lässt diese Frage offen, wie so viele Fragen rund um Shakespeare offen bleiben müssen. Wie war es etwa um das persönliche Liebesleben des Mannes bestellt, der in so überzeugender Weise über die Liebe geschrieben hat - in seinen Dramen und vor allem in seinen Sonetten? Gab es eine homoerotische Beziehung zwischen dem Bühnenautor Shakespeare und seinem adeligen Gönner, dem Earl of Southampton? Die Shakespeare-Forschung musste die Antwort bis heute schuldig bleiben. Wie vieles andere auch, nicht einmal die zeitliche Einordnung der meisten Werke Shakespeares ist eindeutig festzulegen. Und nicht zuletzt in diesen Geheimnissen, die in sein Leben verwoben sind, sieht Charlotte Lyne einen Grund für die Faszination, die Shakespeare auf so viele Menschen ausübt. Auf Seite 173 ihres Shakespeare-Buches bringt sie es auf den Punkt: "Shakespeare macht Spaß!" Auch für deutschsprachige Leser, die des Englischen nicht oder nur unzureichend mächtig sind, auch wenn durch die Übertragung des Originals in eine andere Sprache so einiges verloren geht, auch wenn Friedrich der Große und Voltaire Shakespeares Werken nichts Positives abgewinnen konnten.

Spaß macht dem Leser aber auch Charlotte Lynes Buch. Die Verfasserin leistet Überzeugungsarbeit im besten Sinne, Überzeugungsarbeit, sich näher mit Shakespeare zu beschäftigen, doch einmal eine Shakespeare-Aufführung zu besuchen, das eine oder andere Shakespeare-Drama oder auch eine Komödie des Dichters zu lesen. Und der Text ist in diesem Band nicht alles, die vorliegende Ausgabe kann dazu auch noch mit einem reichen Bildmaterial prunken. Bei den zahlreichen Illustrationen handelt es sich zumeist um wahre Schmuckstücke, so dass das Buch auch von daher eine Bereicherung für jede Bibliothek darstellt. Für mich ist es eine hervorragende Einführung in Werk und Leben des William Shakespeare. Ein schlüssiges Shakespeare-Bild wird man sich nach der Lektüre dieses Buches dennoch nicht machen können. Vieles, zu vieles bleibt nach wie vor im Dunkel der Vermutungen begraben.

Ich möchte meine Abschlussempfehlung mit den Worten Lichtenbergs geben: "Wer zwei Paar Hosen hat, mache eins zu Geld und schaffe sich dieses Buch an."

(Werner Fletcher; 04/2009)


Charlotte Lyne: "Alles über Shakespeare"
Thiele Verlag, 2009. 240 Seiten.
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Charlotte Lyne (1965 in Berlin geboren), studierte Germanistik, Latein und Italienische Literatur in Neapel und Berlin sowie Anglistik in Berlin und London. Ihren Großeltern aus Riga und Danzig verdankt sie ihre Verbundenheit mit der Ostsee und die Leidenschaft für deren Geschichte und Sagenwelt. Sie ist Spezialistin für englische Kultur und Geschichte, was sich auch in ihren mit großem Erfolg veröffentlichten historischen Romanen "Die Glocken von Vineta", "Die zwölfte Nacht" und "Das Haus Gottes" niedergeschlagen hat.

Weitere Bücher der Autorin:

"Die Glocken von Vineta"

Vineta im 12. Jahrhundert: die Perle der Ostsee - eine stolze, reiche Stadt voller Gegensätze. Hier wachsen die Zwillinge Warti und Bole als Söhne eines vermögenden Bernsteinhändlers heran. Als ihr Vater bei einem Schiffsunglück ertrinkt, tritt Warti als der Ältere das Erbe an, während Bole sich als Fischhändler verdingt. Nach einer verheerenden Sturmflut, die Bole um Hab und Gut bringt, heuert er als Spitzel für den verfeindeten dänischen Hof an. Die Rivalität der Brüder droht zu eskalieren, als Bole sich zu Wartis schöner Frau Natalia hingezogen fühlt. Und ihr Kampf um Liebe und Einfluss soll zu einem Ringen um Leben und Tod für die ganze Stadt werden ... (Blanvalet)
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"Die zwölfte Nacht"
England im 16. Jahrhundert. Die junge Catherine Parr hat zwei Herzenswünsche: Sie will eines Tages ein Buch schreiben - ein für eine Frau undenkbares Vorhaben! Und sie will Tom Seymour, ihren Freund aus Kindertagen, heiraten. Doch alles kommt ganz anders: Am Hof Heinrichs des VIII. geraten Catherine und ihr Liebster in den Strudel einer stürmischen Zeit. Freie Geister leben gefährlich in dieser Ära dramatischen Wandels, und so muss Catherine mit Klugheit und Geschick darum kämpfen, sich und Tom vor Kerker und Fallbeil zu bewahren ... (Blanvalet)
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"Das Haus Gottes"
Portsmouth, 1336. Die tatkräftige Dorothy heiratet den gut aussehenden Symond, Sohn des berühmten Schiffsbauers Aimery Fletcher. Doch schon bald zerbricht ihr Traum vom Glück: Symond entpuppt sich als Taugenichts und Frauenheld. Dorothy muss zusehen, wie sie sich und ihre Kinder über die Runden bringt. Da geschieht eine unfassbare Katastrophe: Die Franzosen legen Portsmouth in Schutt und Asche; es ist der Beginn des Hundertjährigen Krieges. In ihrer Verzweiflung wendet sich Dorothy dem Schwiegervater zu. Aber kann ein Mann ihr helfen, von dem es heißt, er habe seine untreue Ehefrau ermordet? (Rowohlt)
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Weitere Buchtipps:

Michael Gruber: "Shakespeares Labyrinth"

Albert Crosetti, 28, arbeitet in einem New Yorker Antiquariat. Er träumt vom Filmemachen und von Carolyn, seiner unnahbaren Kollegin. Als er auf ein Jahrhunderte altes, teils chiffriertes Manuskript stößt, gerät er in eine irreale Zwischenwelt. Der Experte, dem er den Fund überlässt, stirbt. Carolyn verschwindet, echte und falsche Erben tauchen auf. Jake Mishkin, Anwalt für Urheberrecht in New York, hält das Manuskript in seinem Safe unter Verschluss. Doch auch er kann dem unwirklichen Zauber nicht widerstehen, der es umgibt: Hat der Verfasser tatsächlich William Shakespeare ausspioniert und ein unbekanntes Stück des Dramatikers versteckt? Jake Mishkin und Albert Crosetti, der Anwalt und der Computernarr, machen sich auf die Suche nach dem Shakespeare-Original und geraten tief hinein in ein gefährliches Abenteuer. (Aufbau)
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Alexandra Coffey: "Höllischer Ehrgeiz und himmlische Macht. Herrschafts- und Magiediskurse im Theater der englischen Renaissance"
Das Theater der englischen Renaissance entpuppt sich als ein diskursives Schlachtfeld, auf dem zu den Themen kosmische und weltliche Hierarchie vieles sag- und machbar ist: Fürsten werden gerügt, Könige als Tyrannen dargestellt, Prinzen von vorwitzigen Zauberern verspottet, skrupellose Machiavellisten, kriminelle Untertanen und Schwarzmagier greifen nach der Herrscherwürde, und sakrosankte Monarchen werden widerstandslos abgesetzt.
Anhand verschiedener Dramen, in deren Zentrum Magier und Tyrannen stehen, und zahlreichen Handbüchern, Traktaten, Gesetzestexten und Predigten werden die Renaissance-Diskurse über Herrschaft, Magie und den Traum vom sozialen und kosmischen Aufstieg rekonstruiert und die Möglichkeiten des Theaters untersucht, an den strategischen Spielen der realen Macht teilzunehmen. (Herbert Utz Verlag)
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Björn Quiring: "Shakespeares Fluch. Die Aporien ritueller Exklusion im Königsdrama der englischen Renaissance"
Seit der Antike repräsentiert der Fluch die Gewalt des Gottesgerichts in der Sprache und changiert dabei zwischen Verkündigung und Vollzug. Auch im Übergang zur Neuzeit verschwindet dieses sakrale Supplement der Rechtsprechung nicht: Eine Abundanz von zitierten Flüchen und seiner Derivate Segen, Prophetie und Eid spielt speziell in der Genese des frühneuzeitlichen Theaters eine entscheidende Rolle.
An Shakespeares Historiendramen treten solche Verstrickungen besonders prononciert hervor: Ob "Richard III" die Eucharistie und die Exkommunikation für das Theater in Beschlag nimmt, "King John" das Gottesurteil in die Warenform überführt oder "King Lear" die wuchernden Aporien des Naturrechts entfaltet - immer erweisen sich in unerwarteten Überlagerungen von Theologie-, Theater- und Rechtsgeschichte Shakespeares Performanzen des Fluchs als ideale Leitfossilien einer von ihren mythischen Latenzen überwältigten Säkularisierung. (Wilhelm Fink)
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Yvonne Nilges: "Richard Wagners Shakespeare"
Shakespeare und die attische Tragödie bilden die beiden wichtigsten Modelle des Wagnerschen Musiktheaters. Während freilich zumal das aischyleische Drama in seiner Rolle für Wagner längst erhellt wurde, ist die Forschung der grundlegenden Bedeutung Shakespeares niemals näher nachgegangen. Die Studie untersucht dieses - schon Wagners Kindheit bestimmende - "Geistergespräch" mit Shakespeare und dem elisabethanischen Theater über die Dezennien hinweg bis schließlich hin zu Wagners Tode. Bereits als halber Knabe, im Alter von 13 Jahren, verfasst Wagner in seinem ersten erhaltenen Werk "Leubald" eine Kompilation von nicht weniger als neun verschiedenen Shakespeare-Dramen; zehn Jahre später wird aus Shakespeares "Maß für Maß" ein vom Jungen Deutschland inspiriertes, sinnenfrohes "Übermaß" in Wagners zweiter vollendeter Oper "Das Liebesverbot". Das dritte Kapitel ist der Wagnerschen Ästhetik und dem Shakespeare-Bild in Wagners theoretischen Schriften gewidmet, während das vierte "Die Meistersinger" zum ersten Mal als wiedergeborene Shakespearesche Komödie des "Sommernachtstraums" nachzeichnet. Der Schluss gilt den "heiteren" Shakespeare-Betrachtungen des späten und des "letzten" Wagner: Shakespeare und kein Ende in den Cosima-Tagebüchern. (Königshausen & Neumann)
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Ursula Hennigfeld: "Der ruinierte Körper. Petrarkistische Sonette in transkultureller Perspektive"
Anhand der bislang wenig beachteten Kategorien von Körper und Ruine werden petrarkistische Sonette des 16. und 17. Jahrhunderts von Saint-Gelais, Du Bellay, Ronsard, Labé, Góngora, Quevedo, Argensola, Lope de Vega, López de Vega, Shakespeare und Daniel untersucht. Dabei steht die kulturelle Verflechtung der europäischen Literaturen im Vordergrund. Durch die Analyse der poetischen Textverfahren kann nachgewiesen werden, dass der Körper sich der Einordnung in binäre Kategorien wie Mann/Frau, Identität/Differenz, Subjekt/Objekt, Körper/Seele widersetzt. Damit wird indirekt eine Kritik der politischen und genderbezogenen Machtkonfigurationen vollzogen. Durch die intertextuelle Aneignung petrarkistischer Traditionen eröffnet die strenge Form des Sonetts einen Raum diskursiver Spannungen und Auflösungstendenzen, in dem kulturelle und politische Zweifel indirekt zur Sprache gebracht werden. Gerade der sinnliche Körper und das Sprechen über Liebe widersetzen sich den Diskursen der Macht. Die Vielfalt innerhalb der petrarkistischen Tradition macht eindrucksvoll die kulturellen Verbindungen der europäischen Sprachen und Literaturen über nationalstaatliche Grenzen hinweg deutlich. (Königshausen & Neumann)
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"Shakespeare. Essays aus Ungarn"
Ausgewählt, übertragen und mit Anmerkungen versehen von András Horn.
Der Band umfasst Shakespeare-Essays ungarischer Dichter, Romanschriftsteller, Dramatiker, Essayisten, Literaturhistoriker und Theaterfachleute - allesamt Vertreter der ersten Garnitur der ungarischen Geistesgeschichte im 20. Jahrhundert, wobei der älteste Essay von 1909 stammt, der jüngste von 1974. Der einleitende Überblick des Literaturwissenschaftlers Péter Dávidházi über die Phasen der Shakespeare-Rezeption in Ungarn wurde ursprünglich 1996 veröffentlicht. (Königshausen & Neumann)
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