Erri De Luca: "Fische schließen nie die Augen"


Wie schon mit seinen anderen faszinierenden Büchern, die bislang auf Deutsch erschienen sind, entführt der italienische Schriftsteller Erri De Luca seine Leser auch mit "Fische schließen nie die Augen" in eine Zeit, in der die meisten Geschichten ihren Anfang nehmen: in die Tage  der Kindheit.

Der alte Erri De Luca erinnert sich fünfzig Jahre später an ein Kind, das er selbst gewesen ist, aber nicht wirklich kennt. Schreibend sich erinnernd,  nähert er sich ihm an; ein wichtiger Prozess der Selbsterkenntnis, sogar im fortgeschrittenen Alter. Er erinnert sich, wie dieser Junge, der unheimlich viel liest und aus den Büchern seine Kenntnisse über die Erwachsenen bezieht, die Liebe entdeckt. Er nennt es poetisch den "kurzen Halt zwischen den Einsamkeiten".

Es ist ein wunderbarer Sommer, den der Zehnjährige zusammen mit seiner Mutter auf einer Insel im Golf von Neapel verlebt. Er fährt mit den Fischern, die in dem schweigsamen Jungen ihre eigene Wortkargheit gespiegelt sehen, aufs Meer.

So könnte es bleiben, so karg, so wort- und ereignisarm. Aber dann ist da dieses Mädchen, namenlos wie er, das den Jungen eines Tages mit der Frage, warum er denn so sei, aufschreckt. Und er beschreibt, was er erlebt:
"Den Körper, den ich bewohne, fand ich schon voller Gespenster, Albträume, Tarantellen, Riesen und Prinzessinnen vor. Ich habe sie wiedererkannt, als ich ihnen in der Tiefe der zugewiesenen Zeit begegnete. Das Mädchen nicht, sie ist selbst für meinen Körper etwas Erstes gewesen. In ihrer Nähe reagierte er mit einem Schub in den Wirbeln, einem Drang nach oben, mit einem plötzlichen Wachsen. In der Nähe ihres Körpers erforschte ich meinen, tauchte in sein Inneres hinab und wurde hin und her geschüttelt wie der Eimer im Brunnen.
Da lungern am Meer aber noch andere Jungen herum, und sie macht nicht nur ihre eigene Schwärmerei für das Mädchen rasend, sondern auch dieser schwache Bücherwurm, in dem sie plötzlich einen Konkurrenten im Streit um die erste Liebe erblicken müssen."


Als das Mädchen ihn zum ersten Mal küsst, sagt es: "Nur Fische schließen nie die Augen" und zeigt ihm, wie es geht. Und der Junge erlebt, dass man sich beim ersten Kuss vorkommt, als habe man ihn erfunden:
"Über dem ersten Menschenpaar, das am sechsten Tag in einem Garten erschaffen wurde, lag die erste, endlose Nacht. Ohne ihr Zutun entstand in den Körpern der Appetit, der Durst, die Begeisterung und der Schlaf. Die erste Nacht, die sie nicht kannten, war für sie der Rest des ersten Tages, zu Lichtpünktchen zerstoben. Sie wussten nicht, ob die Sonne wiederkehren würde, also umarmten sie sich. Die Münder fanden sich dicht nebeneinander und ersannen den Kuss, die erste Frucht der Erkenntnis. Ich weiß von diesem ersten Mal, weil auch ich diese Stunde damals im Mund hatte, im gleichen Augenblick wie sie, an einem Strand am Meer, über dem Kopf den offenen Himmel."

"Fische schließen nie die Augen" ist eine Hymne an die Macht der ersten Liebe und eine Beschwörung der magischen Kraft der Wörter sowie der Sprache.
Erri De Luca ist bei der italienischen Literaturkritik nicht unumstritten. Oft werden seine häufig durch biblische Texte, (er lernte Hebräisch, um die Bibel zu übersetzen!), inspirierten Texte als "theologischer Kitsch" bezeichnet.
Ich halte das aber für anmaßend. Die Bücher De Lucas sind so etwas wie poetisch-spirituelle Nahrungsmittel.

(Winfried Stanzick; 02/2014)


Erri De Luca: "Fische schließen nie die Augen"
(Originaltitel "I pesci non chiudono gli occhi")
Aus dem Italienischen übersetzt von Annette Kopetzki.
Graf Verlag, 2013. 160 Seiten.
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Erri De Luca, geboren 1950 in Neapel, zog im Alter von 19 Jahren nach Rom und arbeitete dort als Maurer, LKW-Fahrer und Lagerarbeiter. Im Selbststudium brachte er sich mehrere Sprachen bei, darunter auch Althebräisch, um die Bibel übersetzen zu können. Erst im Alter von 40 Jahren begann er zu schreiben. Erri De Luca hat seither mehr als 30 Romane, Essays und Übersetzungen veröffentlicht und gehört zu den meistgelesenen, auflagenstärksten Autoren Italiens. Seine Bücher wurden in Italien, Frankreich und Israel zu Verkaufserfolgen und sind außerdem in Ländern wie Spanien, Portugal, Holland, Brasilien, Polen, Litauen und den USA erschienen. Erri De Luca wurde anno 2010 mit dem "Petrarca-Preis" ausgezeichnet und im Jahr 2013 mit dem "Prix Européen de Littérature".

Weitere Bücher des Autors:

"Das Gewicht des Schmetterlings"

Sprachgewaltig und poetisch erzählt Erri De Luca das Duell des alten Jägers mit dem stolzen "König der Gämsen", zwei willenstarken Einzelgängern. Ähnlich wie Hemingways "Der alte Mann und das Meer" wurde dieses schmale Meisterwerk zum Kultbuch.
Ein flirrend klarer, strahlender Novembertag, hoch in den Bergen. Zum letzten Mal nimmt der alte Wilderer den steinigen Weg auf sich: Über dreihundert Tiere hat er im Lauf seines Lebens erlegt, lange schon lebt er als Eremit. Nur ein einziges fehlt ihm noch: Der König der Gämsen, dieses starke, beinahe unbezwingbare Tier, dessen Mutter er einst ins Tal wuchtete. Im Tal hängen schon die Nebel, und die Menschen gedenken ihrer Toten, wenn für das Wild die Zeit des Aufbruchs und der Revierkämpfe beginnt. Der Zeitpunkt für das seit Jahren aufgeschobene, letzte Duell ist gekommen. Zwei Einzelgänger, ähnlich willensstark und kompromisslos, Mensch und Tier, bewegen sich langsam und unausweichlich aufeinander zu. Am Ende ist es ein weißer Schmetterling, zu Eis gefroren auf dem Horn des Gamsbocks, der für den schicksalhaften Ausgleich sorgt. (List)
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"Der Tag vor dem Glück"
Mit der klaren, bildreichen Sprache des Südens erzählt Erri De Luca die Geschichte eines Waisenjungen, der im Schatten des Vesuvs erwachsen wird. Es ist zugleich eine Liebeserklärung an seine Stadt Neapel: an ihre morbide Schönheit und an ihre freiheitsliebenden, stolzen Bewohner.
Der Tag vor dem Glück: Das ist der Tag, an dem es dem kleinen Waisenjungen gelingt, den Ball hinter dem Fuß der marmornen Statue hervorzuangeln - jetzt darf er bei den Großen mitspielen. Es ist auch der Tag, an dem er unter einem alten neapolitanischen Mietshaus ein geheimes Verlies voller Bücher entdeckt, in dem ein Jude den Krieg überlebte. Und es ist der Tag, an dem das geheimnisvolle Mädchen Anna ihren Platz am Fenster im dritten Stock verlässt und ihm entgegengeht. Don Gaetano, Portier in eben jenem Mietshaus, wird bald sein väterlicher Freund. Er weist ihn nicht nur in die Geheimnisse des Kartenspiels ein, sondern auch in die Kunst des Gedankenlesens. Und er zeigt ihm, wie man in einer Stadt überlebt, in der Glück und Verderbnis so nah beieinander liegen. (List)
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"Montedidio"
Erri De Lucas Meisterwerk, das seinen Ruhm begründete und ihn in Italien zum meistgelesenen Autor des Jahrzehnts machte: Die zarte, poetische Liebesgeschichte aus Neapel ist auch ein Stück europäischer Geschichte en miniature.
Es liegt herrlich in der Hand, das glatte, schwere Holz, das, richtig geworfen, ihm eines Tages Flügel verleihen wird. Dieser Bumerang, ein Geschenk seines Vaters, ist für den jugendlichen Ich-Erzähler das Wertvollste, was er besitzt. Die Tage verbringt der Junge in der Schreinerwerkstatt Meister Erricos, wo auch der Schuhmacher Don Rafaniello seine Werkbank hat. Rafaniello hat einen Buckel und behauptet, darunter würden sich Flügel befinden, wie bei einem Engel. Sie hätten es ihm ermöglicht, sich im Krieg zu verstecken. Jeden Mittag steigt der Junge hinauf auf die Dachterrasse des Mietshauses, um dort unbeobachtet mit seinem Holz zu trainieren. Und abends ist er erneut oben, um die gleichaltrige, aber schon viel erwachsenere Nachbarin Maria zu treffen. Sie kann er davon überzeugen, dass die Reinheit des Herzens stärker ist als die obskure Macht des Bösen, so hat es ihn wenigstens Don Rafaniello gelehrt. Eines Tages beschließt er, Maria sein Geheimnis, den Bumerang, vorzuführen. (List)
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