Florentine Joop:
"Bonifacio oder Das Geheimnis der Faultiere"

Warum Tüchtigkeit und Fleiß nicht der Weisheit letzter Schluss sein können oder Die Wiederentdeckung des Müßigganges als Wert an sich


Vor langer, langer Zeit lebten im Urwald sehr fleißige Tiere, "Fleißtiere" genannt. Es herrschte geschäftiges Treiben, oberflächliche Aktivitäten bestimmten den Alltag. Die Fleißtiere rannten von Termin zu Termin, Krawatten um die Hälse, trendige Sonnenbrillen auf den Nasen. Die übrigen Tierarten beobachteten die hektische Betriebsamkeit der Fleißtiere mit der üblichen Portion Neid und Unbehagen - bis, ja bis die Sache mit Bonifacio geschah!

Bonifacio erwachte in seinem Bett, hoch oben in einer Baumkrone, während sein Vater mit einer Schneeschaufel bewaffnet stammabwärts eilte. Bonifacio entdeckte ein mit glitzernden Tautropfen besetztes, in der aufgehenden Sonne funkelndes Spinnennetz direkt über sich. Und da passierte es: Er hängte sich an den Ast, um den traumhaften Anblick intensiver genießen zu können. Bonifacio sah, dass sich in jedem Tautropfen der gesamte Urwald spiegelte. Von da an war nichts mehr so wie zuvor, denn Bonifacio hing den ganzen Tag über an dem Ast und dachte nach. Nicht einmal das Drängen und Schimpfen seiner Eltern konnte ihn dazu bewegen, einer sichtbaren "sinnvollen" Tätigkeit nachzugehen. Die Fleißtiereltern ließen sich auch nicht lange von ihrem sonderbaren Sohn aufhalten; man hatte ja schließlich alle Hände voll zu tun!
Bonifacio hing also weiterhin kopfüber im Geäst und dachte darüber nach, wie die Welt in einen kleinen Tautropfen passt und versuchte den Sinn von allem zu ergründen. Die Kunde von dem aus der Art geschlagenen Fleißtier verbreitete sich rasch, und von überallher kamen Tiere, die Bonifacio mit eigenen Augen sehen wollten und über seine Aussagen selbst zu grübeln anfingen. Mit der Zeit hingen mehr und mehr Fleißtiere, die es Bonifacio gleichtaten und in Ruhe nachdenken wollten, in den Bäumen.

Nun konnten die anderen Urwaldtiere endlich offen über die Fleißtiere herziehen, denen bald lange Krallen wuchsen, deren Fell struppig wurde; die Geburtsstunde der Bezeichnung "Faultiere" war gekommen!
Und während die anderen Tiere vor lauter Geschäftigkeit vergaßen für Nachwuchs zu sorgen, hingen die Faultiere glücklich in den Bäumen, was sie auch heute noch tun ...

Sowohl der Text als auch die Illustrationen sind wirklich nett und witzig; insbesondere jenes Faultier, das mit einem Buch von Kant im Geäst hängt, verdient Beachtung!

Mag sein, dass der/die Eine oder Andere der Gattung homo sapiens (sapiens) sich durchaus mit den Fleiß- oder auch den Faultieren identifizert, wobei die Zufriedenheit mit der eigenen Rolle im großteils fremdbestimmten Hamsterlaufrad höchst unterschiedlich empfunden werden wird ...

Sang doch auch John Lennon seinerzeit: "Everybody seems to think I´m lazy. I don´t mind, I think they´re crazy, running everywhere in such a speed, until they find there´s no need ..." (Aus dem Lied "I´m only sleeping"/Beatles, 1966).

(Anja; 03/2002)


Florentine Joop: "Bonifacio oder Das Geheimnis der Faultiere"
Edition Riesenrad, 2000. 29 Seiten.
ISBN 3-933697-83-2.
ca. EUR 10,90.
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