Mircea Cărtărescu: "Die Wissenden"


Sprachgewaltig und surreal

In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erlebt Rumänien extreme Umbrüche. Weltkrieg und Bombardierungen, anschließend die zwangsläufig erfolgte Hinwendung zum Kommunismus und das Leben unter der Knute der Sowjetunion und der Securitate hinterlassen ihre Spuren in der Bevölkerung.

Der Ich-Erzähler dieses Romans beobachtet sein Bukarest unablässig aus einem Wohnungsfenster heraus, immer in derselben Position, einen Fuß auf der Heizung, der ihm im Winter geradezu verschmort wird. Er und die Mitbewohner des Hauses, ein vom Schicksal lose zusammengeführtes Grüppchen, können den Alltag nur durch kleine und weniger kleine Fluchten ertragen - kein Wunder, dass der Roman sich rasch vom Konkreten abkehrt und ins Mystisch-Surreal-Fantastische abgleitet. Tatsächlich erinnern viele der heraufbeschworenen rätselhaften Bilder an Dalí oder Magritte, um nur zwei Beispiele aus der bildenden Kunst zu nennen.

Manche Bildelemente begleiten Protagonisten und Leser durch den ganzen Roman, vor allem der Schmetterling mit seinem Potenzial als (teilweise sogar aus Menschen) wiedergeborene Lichtgestalt, der in scharfem Kontrast zur ebenfalls weithin präsenten Spinne steht. Aber auch konkrete Verkörperungen eines maßlosen Grauens verfolgen die Romanfiguren, zum Beispiel eine in ein Erinnerungsmonument umgewandelte Aufzugskonstruktion, die während des Bombardements als einziger Bestandteil eines Hauses stehen blieb und die getötete Liftfrau gleichsam auf ewig in sich einsperrte.

Der Leser reagiert fast mit Verblüffung, wenn die auf geradezu orientalisch anmutende Weise ausgearbeitete fantastische Erzählung plötzlich wieder in die Realität zurückgleitet, sich elegant windend wie eine Schlange, und er Zeuge einer Liebesszene, alltäglicher Schikanen im Hof eines heruntergekommenen Mietshauses oder eines anrührenden Wiedersehens unter Familienangehörigen unmittelbar nach dem Bombardement Bukarests wird. Diese realistischen Szenen bilden gleichsam den roten Faden oder das Rückgrat des Romans, von dem bisweilen fassbare, zumeist aber surreale, groteske Rückblenden und Vorausschauen ausgehen und die Zeit vor dem Auge und Empfinden des Lesers verschwimmen lassen. Ebenso verschwimmen räumliche Distanzen, Männer und Frauen, unbelebte Materie und Leben ineinander und verbinden sich zu einem diffusen, aquarellartigen Reigen.

Mircea Cărtărescu setzt eine ausdrucksstarke, auch in ihrer Üppigkeit an orientalische Erzählungen erinnernde Sprache ein, spielt genießerisch mit ihr, ersinnt komplexe Ausdrücke, die heftig mit den blumig gestalteten Szenen kontrastieren, in die sie eingebunden sind. Der Leser wird von dieser Sprache mitgetragen in rätselhafte, vom Rationalen losgelöste Weiten.

Wer sich von diesem Roman ein leicht nachvollziehbares Bild des Bukarests der Vierziger- und Fünfziger-Jahre des 20. Jahrhunderts erhofft, wird enttäuscht sein. Nur wenige Szenen erfüllen diese Voraussetzung. Menschen hingegen, die eine Verbindung von surrealer Poesie und kraftvoll-drängender Prosa erwarten, finden in diesem Buch wundersam-zauberische Lektüre.

(Regina Károlyi; 10/2007)


Mircea Cărtărescu: "Die Wissenden"
Übersetzt aus dem Rumänischen von Gerhardt Csejka.
Gebundene Ausgabe:
Zsolnay, 2007. 527 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2009.
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Mircea Cărtărescu wurde 1956 in Bukarest geboren und veröffentlicht seit 1978 Gedichte und Prosa. Zahlreiche Aufenthalte im Westen (u. a. in Berlin, Stuttgart, Wien) und Übersetzungen in viele Sprachen. "Die Wissenden" ist der erste Teil einer Trilogie, die im Original den Titel "Orbitor" trägt.

Ein weiteres Buch des Autors:

"Warum wir die Frauen lieben" Geschichten

Mircea Cărtărescu umkreist in allen seinen Büchern eine so rätselhafte wie unverzichtbare Erfahrung: die "namenlose Ergriffenheit". Eine Ergriffenheit, wie Frauen sie auslösen, aber auch das Leid einer unerwiderten oder verlorenen Liebe; eine Ergriffenheit vom Leben überhaupt, das hin und wieder von den "verrückten Blitzen des großen und wahren Glücks durchzuckt wird".
Da ist Irina, Literaturstudentin aus Brasov, die dem jungen Dichter Nabokov und D.H. Lawrence nahebrachte und sich von der Securitate anwerben ließ. Oder die Hermannstädter Rumänin in Paris, die mit einem Algerier zusammenlebt und ihn zu einer Nacht zu dritt verführen will. Mircea selbst ist ein hochsensitives, schönheitstrunkenes Subjekt, das einmal als blasser, traumverlorener, offenbar recht unscheinbarer junger Mann im Bukarest der 1970er-Jahre die Szene betritt, einmal als langhaariger Jüngling in Lederjacke auf den Spuren Ferlinghettis und Kerouacs durch San Francisco läuft.
Wir lieben die Frauen, so der größte Sprachkünstler der rumänischen Literatur, weil sie außergewöhnliche Leserinnen sind. Und die Leser lieben Cărtărescu, weil er dem schönsten, zartesten und heftigsten Gefühl so einfach wie eindrückliche Geschichten gewidmet hat. (Suhrkamp)
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