Rabbi Chanina und die Giftschlange

Die Geschichte geschah in einer Stadt, dort war einst ein Surof in der Synagoge (schul), das bedrohte (másik sajn) die Leute, so daß sie nicht in die Synagoge gehen konnten. Da kamen die Leute zu Rabbi Chanina ben Dossa und sagten, er möge doch (um dessen Beseitigung) beten (tfíle ton). Da sagte Rabbi Chanina zu ihnen: "Kommte mit mir und zeigt mir das Loch, wo das Surof darin ist."
Da gingen die Leute und zeigten ihm das Loch. Da ging der Rabbi Chanina hin und stellte seinen Fuß mit der Ferse auf das Loch. Da kam das Surof heraus und biß Rabbi Chanina in die Ferse, doch war es sogleich tot (péjger). Da nahm er das Surof auf die Achsel und trug es ins Lehrhaus (beß-médresch) und sagte: "Seht, meine lieben Kinder, das Surof hat die Leute nicht getötet, nur die Sünden (awéjreß) sind es, die töten." Da sagte Rabbi Chanina: "Wehe dem Menschen, dem das Surof begegnet, und wehe dem Surof, daß ihm der Rabbi Chanina begegnet ist."
Dazu sagt Raschi: Das Surof hat ein Gift. Wenn es einen gebissen hat, so muß der von beiden, der nach dem anderen das Wasser erreicht, sterben. Kommt das Surof eher zum Wasser als der Mensch, so stirbt der Mensch. Kommt jedoch der Mensch eher zum Wasser, so muß das Surof sterben. Und bei Rabbi Chanina geschah das Wunder: daß ihm ein Wasserquell aus seiner Ferse sprang. Dadurch war Rabbi Chanina eher bei dem Wasser als das Surof.
So mußte das Surof krepieren (péjgern).


Quelle: Traktat Berakhot 33 a, aus dem Babylonischen Talmud.
Übers.: Goldschmidt BT Bd. 1 (1929), 147. - MB: Pappenheim 1929, Nr. 107

Rabbinisches Exemplum Nr. 164 (Chanina ben Dossa und der Skorpion).
Goldschmidt übersetzt das Untier mit "Wasserschlange" und merkt an, der im Talmud wie in der Bibel bezeichnete "wilde Esel" sei vielleicht aus griech. hýdos (Hydra) mißverstanden worden. Eine Parallelstelle belege, daß auch "gefleckte Schlange" möglich sei.
Der sprichwörtlich fromme und wundertätige Rabbi Chanina ben Dossa (Mitte 1. Jh. n. Z.) galt bei seinen Zeitgenossen als ein Mann, der Kranke gesundbeten (Berakhot 34 b) und Regen eindämmen konnte (Taanit 24 b).
Starck 1991, 483 sieht hier das Gebot, ein totes, unreines Tier zu berühren, durch Rabbi Chanina übertreten. Doch erweise er sich hier erneut als Charismatiker, als "Ankündiger der messianischen Zeit".

 

(aus dem "Ma'assebuch")
dtv, 2003