Und - war das jetzt? - der aus dem Unterholz (ihr Garten war davon umgeben) auf sie zurennende Igel, qunfuth!, wie sie ihn unwillkürlich anrief, "Igel" auf arabisch. War das das Igeljunge vom letzten Herbst? Es war es. Und es hatte die Monate als Waise, allein, nicht nur überlebt, sondern war auch, schlafend unter dem gärenden warmen Kompostlaub, groß geworden, fast ein Riesenigel. Auf ihre Anrede hielt dieser inne, trippelte dann umso schneller auf sie zu, vollkommen zielbewußt, stupste sie mit seinem gummiharten, ziemlich kalten schwärzlichen Rüssel an und sagte: "Geh nicht fort. Der Garten ist so öde ohne dich. Ich möchte im Schlaf deine Schritte hören." Er war aufgewacht, nur um ihr das mitzuteilen, und zwängte sich danach schleunigst wieder unter seinen Laubhaufen.

Seine Mutter, oder war es sein Vater gewesen?, hatte im vorigen Sommer während einer ganzen Woche jeweils am hellen Mittag, sonderbar für einen Igel, ohne Scheu das Anwesen umkurvt, zuerst bloß leise piepsend, am letzten Tag aber mit einem zunehmend schrillen Pfeifen. Am Ende hatte der Igel seinen Rundgang gestoppt auf einem Weg, der ausgelegt war mit Steinplatten. Das Tier lagerte sich an diese von der Julisonne beheizte Stelle, wurde aber nicht still, sondern pfiff noch inständiger, den Kopf weit aus dem Stachelpanzer gereckt. Pfeifen, das zu Trillern wurde, schriller als jede Alarmanlage oder Polizeisirene. Trillern, das zu Schmettern wurde. Bis zum äußersten aufgesperrtes Igelmaul, und trotz ihrer, der Frau, Hand auf dem Igelgesicht keine Andeutung eines Rückzugs. Schmettern, sich steigernd zu einem Bombenalarmdröhnen - dabei ein so kleiner Körper, ein so winziges Gesicht! Schließlich der Luftsprung des Schreiers, mit den vier Beinen mehr als eine Handbreit über dem Boden, und jetzt noch so ein Satz, schräg in den Raum, zumindest gleich hoch. Sichstrecken des Igels wie zum Schlaf auf den besonnten Platten. Wegstrecken der Füße, Vorstrecken der Schnauze auf dem Stein. Und kaum einen Augenblick später sein Stacheloval bespickt mit blauschillernden Fliegen, von denen schon zuvor ein paar die zuckende Nase umschwirrt hatten; die Stacheln im jähen Tod nicht mehr geordnet, sondern kreuz und quer. Und fast zugleich auch das aus dem Unterholz tappende Igeljunge, kaum apfelgroß, die soeben verreckte Mutter oder den soeben verreckten Vater kurz beschnuppernd und schon wieder verschwunden im hohen Gras. Und auch das Schreien des Vaters oder der Mutter sagte ihr jetzt: "Geh nicht fort. Schütze mein Junges."


(aus "Der Bildverlust" von Peter Handke;
Suhrkamp Verlag 2002)