Skandal oder Wunder?


Das unglaublich Unfassbare ist geschehen. Völlig rätselhaft und unerwartet. Nun ja, vielleicht nicht völlig unerwartet, denn in den letzten Wochen hat sich das nun tatsächlich Stattgefundene bereits abgezeichnet. Aber so lange etwas eben noch nicht tatsächlich stattgefunden hat, solange gibt es immer noch genügend Schlupflöcher, um zu zweifeln. Doch nun gibt es keinen Zweifel mehr. Aus Sabis Bauch ist der Zweifel zur Realität gekrochen und hat den Namen Abu bekommen. Sabi & Abu, Abu & Sabi, Abu Sabi.
In welcher Reihenfolge auch immer: es ist ein Skandal! Noch dazu ein Skandal, der völlig außer Kontrolle geraten ist und sich unter keinen Umständen mehr geheimhalten lässt. Hunderte Menschen drängen sich herbei, um Abu & Sabi persönlich zu Gesicht zu bekommen.

Und dabei ist Sabi immer so eine nette Kuh gewesen! Natürlich keine Milchkuh, sondern eine Elefantenkuh, aber trotzdem (oder gerade deswegen) ausgesprochen nett. Der Stolz der gesamten Tiergartenwohnanlage ist sie gewesen. Obwohl Sabis eigener Wohnkäfig im Verhältnis zu ihrer Körpergröße doch als ausgesprochen klein bezeichnet werden kann, ist nämlich ihre Neurose nicht viel größer als die ihr zur Verfügung stehende Quadratmeterzahl angewachsen. Da gibt es schon viel verrücktere Exemplare. Man denke nur an die Eisbärin (Eisbärenkuh? Eisbärendame?)! Diese ist auf jeden Fall total neurotisch. Selbst Sigmund Freud persönlich könnte sie nicht mehr behandeln. Abgesehen davon, daß er nicht mehr unter den Lebenden weilt, könnte die Eisbärenkühin gar nicht mehr ruhig auf irgendeiner Couch liegen (und sei sie noch so schön rot), sondern müsste ständig von einer Seite des Behandlungszimmers auf die andere laufen und wieder zurück. Hin und her, her und hin, immer wieder. Und das wären natürlich unerträgliche Arbeitsbedingungen für Sigmund Freud, der von seinen Patienten absolute Ruhelage verlangt hat. Dies ist schließlich das Mindeste, was man von einem Patienten gegenüber seinem Therapeuten verlangen darf, der sich dann sowieso und noch dazu in aufrechter Sitzhaltung mit all den Problemen irgendeiner dahergelaufenen neurotischen Eisbärenhündin auseinandersetzen muss. Aber nun Schluss mit dem Abgleiten in freie Assoziationen und zurück von der roten Couch in der Berggasse über die Eisbärendame zu der skandalträchtigen Sabi.

Skandalträchtig ist das passende Wort. Aber nun eben nicht mehr trächtig, sondern bereits ausgetragen. Abu nicht mehr im Bauch, sondern als unübersehbares Faktum auf den Boden der Realität gepresst. Nur völlig vereinzelt vorkommende Exemplare mit extremster Wahrnehmungsverleugnung (zum Beispiel Blindschleichen) können immer noch so tun, als ob gar nichts geschehen sei. Die Mehrzahl der Betroffenen (und es ist kaum möglich, von so einem Ereignis nicht betroffen zu sein: das geht uns schließlich alle an!), die Mehrzahl der Betroffenen also muss den Skandal mit Namen Abu zur Kenntnis nehmen und darüber selbstverständlich in eine ausführliche Diskussion treten. Jeder hat etwas dazuzusagen, vom Ameisenbär bis zur Ameise, auch wenn letztere es vorzieht, nicht in ein direktes Vieraugengespräch mit ersterem verwickelt zu werden, weil solche heftigen Wickel allzu oft tödlich enden können. Es ist doch fast tiergartenbewohnerische Pflicht, seine Meinung zu diesem skandalösen Ereignis darzulegen. Wozu hat man denn ein je nach Evolutionsgrad unterschiedlich ausgereiftes Gehirn, wenn nicht dazu, um eben diese eigene Meinung kundzutun? Alles können sie einem im Tiergarten nehmen: Freiheit, Würde und die Angst vor dem Verhungern. Aber das Recht auf Meinungsäußerung kann niemandem verwehrt werden. Schon gar nicht in so einer wichtigen Angelegenheit. Und so ist es eben mehr als Laune, es ist verantwortungsvolle Pflicht, jede (und sei sie noch so dumm und unbedacht), einfach jede Meinung (so lange sie nur die eigene, also die völlig authentische ist) von sich zu geben. Schließlich hat bereits jeder Rochen eine eigene Meinung, und es ist bloßer Zufall, dass sich all die einzelnen, authentisch einmaligen Äußerungen, kaum voneinander unterscheiden. Aber wir sind eben alle Tiere aus demselben Zoo mit ähnlichen Vorstellungen von dem, was gut schmeckt und was schlecht (Löwe und Antilope nicken einander verständnisvoll zu). Kaum verwunderlich also, dass alle finden, dass Abu ein Skandal ist. Und wenn ein armes Schaf einmal vom rechten Weg abzukommen droht und vor sich hin blökt, dass man doch gar nicht genau wisse, was eigentlich passiert sei im Staate Elefant und wie die noch unverheiratete Sabi zu ihrem nun unehelich geborenen Abu kommen konnte, wenn also das schüchterne Schaf dies leise blökend in die Zoogemeinschaft einwirft, dann werfen sich gleich alle anderen über es, um ihm klar zu machen, wie dumm Schafe eigentlich und immer gewesen sind. Und der Wolf erklärt lange und eindringlich (aber dabei stets freundlich lächelnd) das Wesen der Authentizität, bis auch das mit nicht soviel Intelligenz bedachte Schaf begreift, dass Abu tatsächlich ein Skandal ist, ein riesengroßer noch dazu und dass es keine Zweifel an dem eindeutigen Fehlverhalten von Sabi geben kann. Letzten Endes findet endlich auch das Schaf zu seiner Authentizität und wird dafür gefeiert als eines der wenigen Schafe, die es geschafft haben, sich über die Dummheit seiner Artgenossen hinwegzusetzen.

Einzig und allein die Nashörner wollen es nicht glauben, dass ihre Dickhautgeschwister so einen Schandfleck darstellen sollen. Aber sie sind weiser als das Schaf und so hüten sie sich, ihre Bedenken laut auszusprechen. Die Nashörner flüstern vielmehr ihre Ansichten ganz leise, still und die vielen Spatzen diplomatisch mitbedenkend - die vielen Spatzen, die um sie herum hopsen und die schon bald das neue Gerücht von den Tierstalldächern pfeifen werden. Kein Skandal, ein Wunder!
Ein Elefantenbaby ohne Elefantenpapa, das kann nur eines bedeuten: Sabi ist frei von jeder geerbten Elefantenschuld und hat in völliger Jungfräulichkeit Abu empfangen und ihn hinaus getragen in die Welt als Zeichen ewiger Erlösung. Das Wovon der Erlösung muss vorläufig allerdings, weil noch unbekannt, ausgespart bleiben.

Und so soll sich das Wunder zugetragen haben:
Ein riesiger Vogel (größer noch als jeder Strauss) sei herabgekommen von Grät-Britan, jenem sagenumwobenen Friedhof mit Namen Britan, in dem all die verschollenen Gräten der berühmtesten je lebenden Fische aufbewahrt sind. Dieser Riesenvogel also soll aus Grät-Britan gekommen sein und auf Sabi herabgesunken. Wie genau, das liegt allerdings völlig im Dunkeln. Der Vogel habe frischen Samen mitgebracht, den Sabi empfangen konnte, ohne dass ein Elefantenbulle dazu ihre Jungfräulichkeit verletzten musste. Auch der Vogel selbst sei nicht direkt und gewaltsam in Sabi eingedrungen, sondern zeugte aus dem Flug heraus (daher der Vogelname Flug-Zeug). Sabi, die Reine, ward auserwählt zu diesem Wunder. Und ein Wunder ist es, dass Abu trotz Gezeugtwerdens von einem Vogel aus dem verschollenen Fischfriedhof nichts an sich hat von einem Vogel oder von einem Fisch, sondern aussieht wie ein ganz gewöhnliches Elefantenbaby. Aber gewöhnlich ist Abu keineswegs! Und er ist durch diese Art der Entstehung nicht nur Messias für die Elefanten oder die gesamte Säugetrierfamilie, sondern auch für die Vögel und für die Fische. Nur die Insekten fühlen sich vernachlässigt, aber keine Ameise wagt dies zum Beispiel in Anwesenheit des Ameisenbärs kundzutun. Und ganz ehrlich: Wo kann man heutzutage noch hingehen, ohne dort sofort auf einen Ameisenbär zu stoßen?


(Karin Steinert; 4.6.2001)